Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (83 page)

Dann, mit der Gabel die Luft spießend und Gräten ausspuckend: »Da han ich doch heut übrigens in Cabourg den Herzog gesehen, den Spinner, den du ja kennst von eure Besichtigung her. Oberleutnant war er.«

Gewiß erinnerte sich Oskar an den Oberleutnant Herzog. Lankes erzählte mir über den Fisch hinweg, daß der Herzog Jahr für Jahrnach Cabourg fahre, Karten und Meßgeräte mitbringe, weil die Bunker ihn nicht schlafen ließen. Auch bei uns, bei Dora sieben, wolle er vorbeikommen und messen.

Während wir noch beim Fisch waren — der zeigte langsam seine große Gräte — kam Oberleutnant Herzog. Khakifarbene Kniehosen trug er, stand mit dicklichen Knallwaden in Tennisschuhen und ließ graubraune Haare aus dem offenen Leinenhemd wachsen. Natürlich blieben wir sitzen. Lankes nannte mich seinen Freund und Kumpel Oskar, sagte zum Herzog Oberleutnant a.D.

Der Oberleutnant außer Dienst begann sogleich Dora sieben eingehend zu untersuchen, ging aber den Beton zuerst von der Außenseite an, was ihm Lankes erlaubte. Tabellen füllte er aus, hatte auch ein Scherenfernrohr bei sich, mit dem er die Landschaft und die vordringende Flut belästigte. Die Schießscharten von Dora sechs, direkt neben uns, streichelte er so zärtlich, als wollte er seiner Gattin etwas Gutes antun. Als er Dora sieben, unser Ferienhäuschen, von innen zu besichtigen vorhatte, verbot ihm das Lankes: »Mann, Herzog, weiß gar nicht, was Sie wollen! Fummeln hier am Beton rum.

Is doch längst passé, was damals noch aktuell war.«

Passé ist ein Lieblingswort bei Lankes. Er pflegt die Welt in aktuell und passé einzuteilen. Aber der Oberleutnant außer Dienst befand, daß nichts passé, daß die Rechnung noch nicht aufgegangen sei, daß man sich später und immer wieder vor der Geschichte verantworten müsse und daß er jetzt Dora sieben von innen besichtigen wolle: »Haben Sie mich verstanden, Lankes!«

Schon warf Herzog seinen Schatten auf unseren Tisch und Fisch. Uns übergehen wollte er und in jenen Bunker, über dessen Eingang immer noch Betonornamente die bildnerische Hand des Obergefreiten Lankes verrieten.

Herzog kam an unserem Tisch nicht vorbei. Von unten her, begabelt, doch ohne die Gabel zu gebrauchen, warf Lankes seine Faust hoch und legte den Oberleutnant außer Dienst Herzog in den Seesand. Kopfschüttelnd, die Unterbrechung der Fischmahlzeit bedauernd, erhob sich Lankes, raffte mit linker Hand das Leinenhemd des Oberleutnants über der Brust zusammen, schleppte den, eine regelmäßige Spur zeichnend, seitwärts davon und warf ihn von der Düne, so daß wir ihn nicht mehr sahen, aber dennoch hören mußten. Herzog sammelte seine Meßinstrumente, die Lankes ihm nachgeworfen hatte, ein und entfernte sich schimpfend, alle historischen Geister beschwörend, die Lankes zuvor als passé bezeichnet hatte.

»So unrecht hatter gar nich, der Herzog. Auch wenner'n Spinner ist. Wenn wir hier damals nich so besoffen gewesen wären, als es losging, wer weiß, was aus den Kanadiern geworden wäre.«

Ich konnte nur zustimmend nicken, denn noch am Vortage hatte ich bei Ebbe zwischen Muscheln und leeren Krabbenschalen den deutlich sprechenden Knopf einer kanadischen Uniform gefunden. Oskar verwahrte den Knopf in seiner Brieftasche und befand sich so glücklich, als hätte er eine seltene etruskische Münze gefunden.

Der Besuch des Oberleutnants Herzog hatte, so kurz er war, Erinnerungen heraufbeschworen: »Weißt du noch, Lankes, als wir damals mit der Fronttheatergrupppe euren Beton besichtigten, auf dem Bunker frühstückten, ein Windchen wehte wie heute; und auf einmal gab es da sechs oder sieben Nonnen, die zwischen dem Rommelspargel nach Krabben suchten, und du, Lankes, mußtest auf Befehl den Strand räumen; mit einem mörderischen Maschinengewehr tatest du das.«

Lankes erinnerte sich, saugte Gräten ab, wußte sogar noch die Namen: Schwester Scholastika, Schwester Agneta zählte er auf, beschrieb mir die Novizin als ein rosiges Gesicht mit viel Schwarz drumherum, malte sie mir so deutlich, daß mir jenes ständig anwesende Bild meiner weltlichen Krankenschwester, der Schwester Dorothea, zwar nicht versank, aber doch teilweise verdeckt wurde; was sich noch steigerte, als wenige Minuten nach der Beschreibung — für mich schon nicht mehr überraschend genug, um es als Wunder werten zu können — aus Richtung Cabourg eine junge Nonne über die Dünen wehte, welche rosa, mit viel Schwarz drumherum, nicht übersehen werden konnte.

Sie hielt einen schwarzen Regenschirm, wie ihn ältere Herren bei sich führen, gegen die Sonne. Über den Augen rundete sich ein heftig grüner Zelluloidschirm, ähnlich dem Augenschutz geschäftiger Filmmänner in Hollywood. Man rief nach ihr in den Dünen. Es schienen noch mehr Nonnen im Lande zu sein.

»Schwester Agneta!« rief man, auch: »Schwester Agneta, wo sind Sie denn?«

Und Schwester Agneta, das junge Ding oberhalb unserer sich immer deutlicher abzeichnenden Kabeljaugräte antwortete: »Hier, Schwester Scholastika. Es ist hier so windstill!«

Lankes grinste und nickte wohlgefällig mit seinem Wolfsschädel, als hätte er diesen katholischen Aufmarsch bestellt, als gäbe es nichts, das ihn überraschen könnte.

Die junge Nonne erblickte uns und stand links neben dem Bunker. Ihr rosiges Gesicht, das zwei kreisrunde Nasenlöcher hatte, sagte zwischen leicht vorstehenden, doch sonst tadellosen Zähnen:

»Oh!«

Lankes drehte Hals und Kopf, ohne den Oberkörper zu verrücken: »Na Schwester, kleinen Bummel machen?«

Wie schnell die Antwort kam: »Wir gehen jedes Jahr einmal ans Meer. Aber ich sehe das Meer zum erstenmal. Es ist so groß!«

Dem konnte man nicht widersprechen. Bis zum heutigen Tage will mir jene Beschreibung des Meeres als allein zutreffende Beschreibung gelten.

Lankes übte Gastfreundschaft, stocherte in meinem Fischanteil und bot an: »Bißchen Fisch probieren, Schwester? Ist noch warm.«Sein zwangloses Französisch ließ mich erstaunen, und Oskar versuchte gleichfalls die fremde Sprache: »Brauchen sich nicht zu genieren, Schwester. Ist ja Freitag heute.«

Doch auch diese Anspielung auf ihre sicher strengen Ordensregeln konnten das in der Kutte geschickt verborgene Mädchen nicht dazu bewegen, an unserer Mahlzeit teilzunehmen.

»Wohnen Sie immer hier?« wollte ihre Neugierde wissen. Hübsdi fand sie unseren Bunker und ein bißchen komisch. Da schoben sich leider die Oberin und fünf weitere Nonnen mit schwarzen Regen-und grünen Reporterschirmen über den Dünenkamm ins Bild. Die Agneta stob davon und wurde, soweit ich den vom Ostwind frisierten Wortschwall verstehen konnte, kräftig ausgeschimpft, dann in die Mitte genommen.

Lankes träumte. Er hielt die Gabel verkehrt im Mund und fixierte die wehende Gruppe auf der Düne:

»Dat sind keine Nonnen, dat sind Segelschiffe.«

»Segelschiffe sind weiß«, gab ich zu bedenken.

»Dat sind schwarze Segelschiffe.« Mit Lankes konnte man schlecht diskutieren. »Die, links außen, dat is dat Flaggschiff. Die Agneta, dat is ne schnelle Korvette. Günstiger Segelwind: Kiellinie, vom Klüver bis zum Achtersteven, Kreuz-, Groß- und Fockmast, alle Segel gesetzt, ab zum Horizont nach England. Stell dich dat vor: morgen früh wachen die Tommys auf, gucken äußern Fenster, was sehen sie: Fünfundzwanzigtausend Nonnen, bis über die Toppen beflaggt, und schon kommt die erste Breitseite ...»

»Ein neuer Religionskrieg!« half ich ihm. Das Flaggschiff müsse Maria Stuart heißen oder De Valera oder, noch besser, Don Jüan. Eine neue, beweglichere Armanda nimmt Rache für Trafalgar! »Tod allen Puritanern!« hieße es, und die Engländer hätten diesmal keinen Nelson auf Lager. Die Invasion könnte beginnen: England hat aufgehört, eine Insel zu sein!

Lankes wurde das Gespräch zu politisch. »Jetzt dampfen sie ab, die Nonnen«, meldete er.

»Segeln!« verbesserte ich ihn.

Nun, ob sie segelten oder abdampften, in Richtung Cabourg wehte es sie davon. Regenschirme hielten sie zwischen sich und der Sonne. Nur eine blieb etwas zurück, bückte sich zwischen den Schritten, hob auf und ließ fallen. Der Rest der Flotte — um bei dem Bild zu bleiben — mühte sich langsam, gegen den Wind kreuzend, auf die ausgebrannten Kulissen der ehemaligen Strandhotels zu.

»Die hat den Anker nich hochbekommen oder hat Ruderschaden.« Lankes hielt sich weiterhin an die Sprache der Seeleute. »Wenn dat man nich die schnelle Korvette, die Agneta is?«

Ob Korvette oder Fregatte, es war die Novize Agneta, die sich uns Muscheln sammelnd und verwerfend näherte.

»Was sammeln Sie denn da, Schwester?« Dabei sah es Lankes genau.

»Muscheln!« Sie sprach das Wörtchen besonders aus und bückte sich.

»Dürfen Sie das denn? Das sind doch irdische Güter.«

Ich unterstützte die Novize Agneta: »Du irrst dich, Lankes. Muscheln sind niemals irdische Güter.«

»Dann sind es Strandgüter, auf jeden Fall Güter, und die dürfen die Nonnen nicht besitzen. Da heißt es Armut, Armut und nochmal Armut! Nicht wahr, Schwester?«

Schwester Agneta lächelte mit vorstehenden Zähnen: »Ich nehme nur wenige Muscheln mit. Die sind für den Kindergarten bestimmt. Die Kleinen spielen so gerne damit und waren noch nie am Meer.«

Agneta stand vor dem Bunkereingang und warf einen Nonnenblick ins Bunkerinnere.

»Wie gefällt Ihnen denn unser Häuschen?« biederte ich mich an. Lankes kam direkter: »Besichtigen Sie doch mal die Villa. Angucken kostet nichts, Schwester!«

Sie scharrte mit spitzen Schnürschuhen unter dem soliden Stoff. Manchmal stieß sie sogar den Seesand, daß der Wind ihn mitnahm und über unseren Fisch streute. Etwas unsicherer und mit nunmehr deutlich hellbraunen Augen prüfte sie uns und den Tisch zwischen uns. »Das geht sicherlich nicht«, forderte sie unseren Widerspruch heraus.

»Ach was, Schwester!« räumte der Maler alle Schwierigkeiten aus dem Wege und erhob sich. »Hat nämlich 'ne hübsche Aussicht, der Bunker. Durch die Schießscharten kann man den ganzen Strand überblicken.«

Sie zögerte immer noch, hatte die Schuhe gewiß voller Sand. Lankes streckte die Hand in den Bunkereingang. Sein Betonornament" warf kräftige, ornamentale Schatten. »Sauber ist es auch drinnen!«

Es mag die einladende Bewegung des Malers gewesen sein, die die Nonne ins Bunkerinnere führte.

»Aber nur einen Augenblick!« hieß das entscheidende Wort. Vor Lankes huschte sie in den Bunker.

Der wischte sich die Hände an den Hosen ab — eine typische Malerbewegung — und drohte, bevor er verschwand: »Daß du mir ja nix von meinem Fisch nimmst!«

Oskar aber hatte genug vom Fisch. Ich rückte vom Tisch ab, war dem sand mitführenden Wind und den übertriebenen Geräuschen der Flut, des alten Kraftmeiers, ausgeliefert. Mit dem Fuß schob ich mir meine Trommel heran und begann trommelnd aus dieser Betonlandschaft, aus dieser Bunkerwelt, aus diesem Gemüse, das Rommelspargel hieß, einen Ausweg zu suchen.

Zuerst und mit wenig Erfolg, versuchte ich es mit der Liebe: Einst liebte auch ich eine Schwester.

Weniger eine Nonne, mehr eine Krankenschwester. In Zeidlers Wohnung wohnte sie hinter einer Milchglastür. Sie wahr sehr schön, doch sah ich sie nie. Da gab es einen Kokosläufer, der geriet dazwischen. Es war zu dunkel auf Zeidlers Flur. So spürte ich auch die Kokosfasern deutlicher als den Körper der Schwester Dorothea.Nachdem dieses Thema allzubald auf dem Kokosläufer verendete, versuchte ich meine frühere Liebe zu Maria rhythmisch aufzulösen und dem Beton gleich schnellwachsenden Kletterpflanzen da-vorzupflanzen. Da war es wieder die Schwester Dorothea, die meiner Liebe zu Maria im Wege stand: vom Meer her wehte Carbolgeruch, Möwen winkten in Krankenschwesterntracht, die Sonne wollte mir als Rotkreuzbrosche leuchten.

Eigentlich war Oskar froh, als seine Trommelei gestört wurde. Die Oberin, Schwester Scholastika, kehrte mit ihren fünf Nonnen zurück. Sie sahen müde aus und hielten die Schirme schief und verzweifelt: »Haben Sie eine junge Nonne gesehen, unsere junge Novize gesehen? Das Kind ist so jung. Das Kind sieht das Meer zum erstenmal. Es muß sich verirrt haben. Wo sind Sie denn, Schwester Agneta?!«

Mir blieb nichts anderes zu tun übrig, als den diesmal vom Rückenwind geblähten Pulk in Richtung Ornemündung, Arromanches, Port Winston zu schicken, wo einst die Engländer ihren künstlichen Hafen dem Meer abgezwungen hatten. Alle zusammen hätten in unserem Bunker kaum Platz gefunden. Zwar reizte es mich einen Augenblick lang, dem Maler Lankes diesen Besuch zu bescheren, dann aber befahlen mir Freundschaft, Überdruß, Bosheit gleichzeitig, den Daumen in Richtung Ornemündung zu strecken. Die Nonnen gehorchten meinem Daumen, wurden auf dem Dünenkamm sechs immer kleiner werdende, schwarzwehende Löcher; und auch das wehleidige »Schwester Agneta, Schwester Agneta!« gelang ihnen immer windiger, bis es schließlich versandete.

Lankes verließ als erster den Bunker. Die typische Malerbewegung: die Hände wischte er an den Hosenbeinen ab, lümmelte sich in die Sonne, verlangte mir eine Zigarette ab, steckte die Zigarette in seine Hemdtasche und fiel über den kalten Fisch her. »Dat macht hungrig«, erklärte er sich andeutungsweise und plünderte das mir zugesprochene Schwänzende.

»Gewiß wird sie jetzt unglücklich sein«, klagte ich Lankes an und genoß dabei das Wörtchen unglücklich.

»Wieso denn? Hat se gar keinen Grund zu, unglücklich zu sein.«

Lankes konnte sich nicht vorstellen, daß seine Art Umgang zu pflegen unglücklich machen könnte.

»Was tut sie denn jetzt?« fragte ich und hatte eigentlich etwas anderes fragen wollen.

»Sie näht«, erklärte Lankes mit der Fischgabel. »Hat sich die Kutte ein bißchen zerrissen, nun näht sie den Schaden wieder.«

Die Näherin verließ den Bunker. Sofort spannte sie wieder den Regenschirm auf, trällerte leichthin und dennoch — wie ich es herauszuhören glaubte — etwas angestrengt: »Wirklich schön ist die Aussicht von Ihrem Bunker aus. Den ganzen Strand überblickt man und das Meer.«

Vor den Trümmern unseres Fisches blieb sie stehen.

»Darf ich?«

Wir nickten gleichzeitig.

»Die Seeluft macht hungrig«, half ich ihr, und nun nickte sie, griff mit geröteten, gesprungenen, an die schwere Arbeit im Kloster erinnernden Händen in unseren Fisch, führte zum Mund, aß ernsthaft, angestrengt und grüblerisch, als kaute sie mit dem Fisch etwas wieder, was sie vor dem Fisch genossen hatte.

Ich blickte ihr unter die Haube. Den grünen Reporterschirm hatte sie im Bunker vergessen. Kleine, gleichgroße Schweißperlen reihten sich auf ihrer glatten, in weißer, steifer Begrenzung madonnenhaft wirkenden Stirn. Lankes wollte abermals eine Zigarette haben, obwohl er die vorherige noch nicht geraucht hatte. Ich warf ihm das ganze Päckchen zu. Während er drei Stengel in seine Hemdtasche steckte, sich einen vierten Stengel zwischen die Lippen klebte, drehte sich Schwester Agneta, warf den Schirm fort und lief — erst jetzt sah ich, daß sie barfuß war — die Düne hoch und verschwand in Richtung Brandung.

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