The Kraus Project (35 page)

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Authors: Karl Kraus

Nicht der Schauspieler Nestroy, sondern der kostümierte Anwalt seiner satirischen Berechtigung, der Exekutor seiner Anschläge, der Wortführer seiner eigenen Beredsamkeit, mag jene geheimnisvolle und gewiß nicht in ihrem künstlerischen Ursprung erfaßte Wirkung ausgeübt haben, die uns als der Mittelpunkt einer heroischen Theaterzeit überliefert ist.
Mit Nestroys Leib mußte die Theaterform seines Geistes absterben, und die Schablone seiner Beweglichkeit, die wir noch da und dort in virtuoser Haltung auftauchen sehen, ist ein angemaßtes Kostüm.
In seinen Possen bleibt die Hauptrolle unbesetzt, solange nicht dem Adepten seiner Schminke auch das Erbe seines satirischen Geistes zufällt.
Nur die fruchtbare Komik seiner volleren Nebengestalten hat originale Fortsetzer gefunden, wie etwa den Schauspieler Oskar Sachs, dessen Art in ihrer lebendigen Ruhe dem klassischen Carltheater zu enstammen scheint.
Aber als Ursprung und Vollendung eines volkstümlichen Typus dürfte ein Girardi, der, ein schauspielerischer Schöpfer, neben der leeren Szene steht, die ihm das Bühnenhandwerk der letzten Jahrzehnte bietet, über den theatralischen Wert der Nestroyschen Kunst hinausragen, welche ihre eigene Geistesfülle nur zu bekleiden hatte.
Darum konnte auch ein Bühnenlaie wie Herr Reinhardt einem Girardi einen Nestroy-Zyklus vorschlagen.
In Girardi wächst die Gestalt an der Armut der textlichen Unterstützung, bei Nestroy schrumpft sie am Reichtum des Wortes zusammen.
In Nestroy ist so viel Literatur, daß sich das Theater sträubt, und er muß für den Schauspieler einspringen.
Er kann es, denn es ist geschriebene Schauspielkunst.
In dieser Stellvertretung für den Schauspieler, in dieser Verkörperung dessen, was sich den eigentlichen Ansprüchen des Theaters leicht entzieht, lebt ihm heute eine Verwandtschaft, die schon in den geistigen Umrissen der Persönlichkeit hin und wieder erkennbar wird: Frank Wedekind.
Auch hier ist ein Überproduktives, das dem organischen Mangel der Figur durch die Identität nachhilft und zwischen Bekenntnis und Glaubhaftigkeit persönlich vermittelt.
Der Schauspieler hat eine Rolle für einen Dichter geschrieben, die der Dichter einem Schauspieler nicht anvertrauen würde.
In Wedekind stellt sich – wenn ich von einem mir näher liegenden Beispiel sprachsatirischer Nachkommenschaft absehe – ein Monologist vor uns, dem gleichfalls eine scheinbare Herkömmlichkeit und Beiläufigkeit der szenischen Form genügt, um das wahrhaft Neue und Wesentliche an ihr vorbeizusprechen und vorbeizusingen.
Auf die Analogie im Tonfall witzig eingestellter Erkenntnisse hat einmal der verstorbene Kritiker Wilheim hingewiesen.
Der Tonfall ist jene Äußerlichkeit, auf die es dem Gedanken hauptsächlich ankommt, und es muß irgendwo einen gemeinsamen Standpunkt der Weltbetrachtung geben, wenn Sätze gesprochen werden, die Nestroy so gut gesprochen haben konnte wie Wedekind.

„Sie steht jetzt im zwanzigsten Jahr, war dreimal verheiratet, hat eine kolossale Menge Liebhaber befriedigt, da melden sich auch schließlich die Herzensbedürfnisse.“

Eine solche biographische Anmerkung würde, wie sie ist, auch von einem der Nestroyschen Gedankenträger gemacht werden, wenn er sich mit dem gleichen Schwung der Antithese über das Vorleben seiner Geliebten hinwegsetzen könnte.
Und im „Erdgeist“ könnte einer ungefähr wieder den wundervollen Satz sprechen, der bei Nestroy vorkommt:

„Ich hab’ einmal einen alten Isabellenschimmel an ein’ Ziegelwagen g’seh’n.
Seitdem bring’ ich die Zukunft gar nicht mehr aus’m Sinn.“

Vielleicht aber ist hier das absolut Shakespearische solch blitzhafter Erhellung einer seelischen Landschaft über jeden modernen Vergleich erhaben.
Es ist ein Satz, an dem man dem verirrten Auge des neuen Lesers wieder vorstellen möchte, was Lyrik ist: ein Drinnen von einem Draußen geholt, eine volle Einheit.
Die angeschaute Realität ins Gefühl aufgenommen, nicht befühlt, bis sie zum Gefühl passe.
Man könnte daran die Methode aller Poeterei, aller Feuilletonlyrik nachweisen, die ein passendes Stück Außenwelt sucht, um eine vorrätige Stimmung abzugeben.
An solchem Satz bricht der Fall Heine auf und zusammen, denn es bietet sich die tote Gewißheit, daß ein alter Isabellenschimmel zu sinnen anfinge: Wie schön war mein Leben früher – Heut’ muß ich den Wagen zieh’n – O alter Zeiten Gewieher – Dahin bist du, dahin!
– Der Wagen aber sprach munter – Das ist der Welten Lauf – Geht der Weg einmal hinunter – so geht er nicht wieder hinauf … Und wir wären über die Stimmung des Dichters inklusive der ironischen Resignation vollständig informiert.
Bei Nestroy, der nur holperige Coupletstrophen gemacht hat, lassen sich in jeder Posse Stellen nachweisen, wo die rein dichterische Führung des Gedankens durch den dicksten Stoff, wo mehr als der Geist: die Vergeistigung sichtbar wird.
Es ist der Vorzug, den vor der Schönheit jenes Gesicht hat, das veränderlich ist bis zur Schönheit.
Je gröber die Materie, umso eindringlicher der Prozeß.
An der Satire ist der sprachliche Anspruch unverdächtiger zu erweisen, an ihr ist der Betrug schwerer als an jener Lyrik, die sich die Sterne nicht erst erwirbt und der die Ferne kein Weg ist, sondern ein Reim.
Die Satire ist so recht die Lyrik des Hindernisses, reich entschädigt dafür, daß sie das Hindernis der Lyrik ist.
Und wie hat sie beides zusammen: vom Ideal das ganze Ideal und dazu die Ferne!
Sie ist nie polemisch, immer schöpferisch, während die falsche Lyrik nur Jasagerei ist, schnöde Berufung der schon vorhandenen Welt.
Wie ist sie die wahre Symbolik, die aus den Zeichen einer gefundenen Häßlichkeit auf eine verlorene Schönheit schließt und kleine Sinnbilder für den Begriff der Welt setzt!
Die falsche Lyrik, welche die großen Dinge voraussetzt, und die falsche Ironie, welche die großen Dinge negiert, haben nur ein Gesicht, und von der einsamen Träne Heines zum gemeinsamen Lachen des Herrn Shaw führt nur eine Falte.
Aber der Witz lästert die Schornsteine, weil er die Sonne bejaht.
Und die Säure will den Glanz und der Rost sagt, sie sei nur zersetzend.
Die Satire kann eine Religionsstörung begehen, um zur Andacht zu kommen.
Sie wird leicht pathetisch.
Auch dort, wo sie ein gegebenes Pathos nicht anders einstellt als ein Ding der Außenwelt, damit ihr Widerspruch hindurchspiele.
Ja und Nein vermischen sich, vermehren sich, und es entspringt der Gedanke.
Ein Spiel, gesinnungslos wie die Liebe.
Das Ergebnis dieser vollkommenen Durchdringung, Erhaltung und Verstärkung polarer Strömungen: eine Nestroysche Tirade, eine Offenbachsche Melodie.
Hier unterstreicht der Witz, der es auslacht, das Entzücken an einem Schäferspiel; dort schlägt die Verzerrung einer schmachtenden Mondscheinliebe über die Stränge der Parodie ins Transzendente.
Das ist der wahre Übermut, dem nichts unheilig ist.

„Mich hat ein echt praktischer Schwärmer versichert, das Reizendste is das, wenn von zwei Liebenden eins früher stirbt und erscheint dem andern als Geist.
Ich kann mich in das hineindenken, wenn sie so dasitzet in einer Blumennacht am Gartenfenster, die Tränenperlen vom Mondstrahl überspiegelt, und es wurd’ hinter der Hollerstauden immer weißer und weißer und das Weiße wär’ ich – gänzlich Geist, kein Stückerl Körper, aber dennoch anstandshalber das Leintuch der Ewigkeit über’n Kopf – ich strecket die Arme nach ihr aus, zeiget nach oben auf ein’ Stern, Gotigkeit,,dort werden wir vereinigt‘– sie kriegt a Schneid’ auf das Himmelsrendezvous, hast es net g’sehn streift die irdischen Bande ab, und wir verschwebeten, verschmelzeten und verschwingeten uns ins Azurblaue des Nachthimmels…“

Gewendetes Pathos setzt Pathos voraus, und Nestroys Witz hat immer die Gravität, die noch die besseren Zeiten des Pathos gekannt hat.
Er rollt wie der jedes wahren Satirikers die lange Bahn entlang, dorthin wo die Musen stehen, um alle neun zu treffen.
Der Raisonneur Nestroy ist der raisonnierende Katalog aller Weltgefühle.
Der vertriebene Hanswurst, der im Abschied von der Bühne noch hinter der tragischen Figur seine Späße machte, scheint für ein Zeitalter mit ihr verschmolzen, und lebt sich in einem Stil aus, der sich ins eigene Herz greift und in einem eigentümlichen Schwebeton, fast auf Jean Paulisch, den Scherz hält, der da mit Entsetzen getrieben wird.

FRAU VON ZYPRESSENBURG
: Ist sein Vater auch Jäger?

TITUS
: Nein, er betreibt ein stilles, abgeschiedenes Geschäft, bei dem die Ruhe seine einzige Arbeit ist; er liegt von höherer Macht gefesselt, und doch ist er frei und unabhängig, denn er ist Verweser seiner selbst; – er ist
tot
.

FRAU VON ZYPRESSENBURG
(
für sich
): Wie verschwenderisch er mit zwanzig erhabenen Worten das sagt, was man mit einer Silbe sagen kann.
Der Mensch hat offenbare Anlagen zum Literaten.

Und es ist die erhabenste und noch immer knappste Paraphrase für einen einsilbigen Zustand, wie hier das Wort um den Tod spielt.
Dieses verflossene Pathos, das in die unscheinbarste Zwischenbemerkung einer Nestroyschen Person einfließt, hat die Literarhistoriker glauben machen, dieser Witz habe es auf ihre edlen Regungen abgesehen.
In Wahrheit hat er es nur auf ihre Phrasen abgesehen.
Nestroy ist der erste deutsche Satiriker, in dem sich die Sprache Gedanken macht über die Dinge.
Er erlöst die Sprache vom Starrkrampf, und sie wirft ihm für jede Redensart einen Gedanken ab.
Bezeichnend dafür sind Wendungen wie:

„Wann ich mir meinen Verduß net versaufet, ich müßt’ mich g’rad aus Verzweiflung dem Trunke ergeben.“

Oder:

„Da g’hören die Ruben her!
An keine Ordung g’wöhnt sich das Volk.
Kraut und Ruben werfeten s’ untereinand’, als wie Kraut und Ruben.“

Hier lacht sich die Sprache selbst aus.
Die Phrase wird bis in die heuchlerische Konvention zurückgetrieben, die sie erschaffen hat:

„Also heraus mit dem Entschluß, meine Holde!“ „Aber Herr v.
Lips, ich muß ja dort erst…“ „Ich versteh’, vom Neinsagen keine Rede, aber zum Jasagen finden Sie eine Bedenkzeit schicklich.“

Die Phrase dreht sich zur Wahrheit um:

„Ich hab die Not mit Ihnen geteilt, es ist jetzt meine heiligste Pflicht, auch in die guten Tag’ Sie nicht zu verlassen!“

Oder entartet zu Neubildungen, durch die im Munde der Ungebildeten die Sprache der höheren Stände karikiert wird:

„Da kommt auf einmal eine verspätete Sternin erster Größe zur Gesellschaft als glanzpunktischer Umundauf der ambulanten Entreprise…“

Wie für solche Absicht die bloße Veränderung des Tempus genügt, zeigt ein geniales Beispiel, wo das „sprechen wie einem der Schnabel gewachsen ist“ sich selbst berichtigt.
Ein Ineinander von Problem und Inhalt:

„Fordere kühn, sprich ohne Scheu, wie dir der Schnabel wuchs!“

Nestroys Leute reden geschwollen, wenn der Witz das Klischee zersetzen oder das demagogische Pathos widerrufen will:

„O, ich will euch ein furchtbarer Hausknecht sein!“

Jeden Domestiken läßt er Schillersätze sprechen, um das Gefühlsleben der Prizipale zu ernüchtern.
Oft aber ist es, als wäre einmal die tragische Figur hinter dem Hanswurst gestanden, denn das Pathos scheint dem Witz beizustehen.
Echte Herzenssachen werden abgehandelt, wenn ein Diurnist zu einer Marschandmod’ wie in das Zimmer der Eboli tritt:

„Ihr Dienstbot’ durchbohrt mich – weiß er um unsere ehemalige Liebe?“

Witz und Pathos begleiten sich und wenn sie, von der Zeit noch nicht gereizt, einander auch nicht erzeugen können, so werden sie doch nie aneinander hinfällig.
Der Dichter hebt zwar nicht den eigenen Witz unverändert in das eigene Pathos, aber er verstärkt ihn durch das fremde.
Sie spielen und entlassen sich gegenseitig unversehrt.
Wenn sich Nestroy über das Gefühl hinwegsetzt, so können wir uns darauf verlassen, und wenn sein Witz eine Liebesszene verkürzt, so erledigt er und ersetzt er sämtliche Liebesszenen, die sich in ähnlichen Fällen abspielen könnten.
Wo in einer deutschen Posse ist je nach der Verlobung der Herrschaften das Nötige zwischen der Dienerschaft mit weniger Worten veranlaßt worden:

„Was schaut er mich denn gar so an?“ „Sie ist in Diensten meiner künftigen Gebieterin, ich bin in Diensten ihres künftigen Gebieters, ich werfe das bloß so hin, weil sich daraus verschiedene Entspinnungen gestalten könnten.“ „Kommt Zeit, kommt Rat!“

Und wenn es gilt, an Nestroyschen Dialogstellen sein Abkürzungsverfahren für Psychologie zu zeigen, wo steht eine Szene wie diese zwischen einem Schuster und einem Bedienten:

„Ich gratuliere zum heimlichen Terno, oder was es gewesen und, aber auf Ehr’, ich war ganz paff.“ „Der Wirt gar!
Der hat noch ein dümmeres Gesicht gemacht als Sie.
Wetten S’ ’was, daß ich ihm jetzt zehn Frank’ schuldig bleib’, und er traut sich nix zu sagen … Ja, einen Dukaten wechseln lassen, das erweckt Respekt.“ „Kurios!
(
Beiseite
.) Aber auch Verdacht … Unser Herr ist verschwunden.
Bei dem Proletarier kommt ein Dukaten zum Vorschein … Hm … Sie sind Schuster?“ „So sagt die Welt.“ „Haben vermutlich einen unverhofften Engländer gedoppelt?“ „Ach, Sie möchten gern wissen, wie ein ehrlicher Schuster zu ei’m Dukaten kommt?“ „Na ja … auffallend is es … Das heißt, interessant nämlich…“ „Als fremder Mensch geht’s Ihnen eigentlich nix an … aber nein, ich betrachte jeden, den ich im Wirtshaus find’, als eine verwandte Seele.
(
Ihm die Hand drückend
.) Sie sollen alles wissen.“ (
In neugieriger Spannung
.) „Na, also?“ „Seh’n Sie, die Sach’ ist die.
Es liegt hier eine Begebenheit zu Grunde … eine im Grunde fürchterliche Begebenheit, die kein Mensch auf Erden je erfahren darf, folglich auch Sie nicht.“ „Ja, aber…“ „Drum zeigen Sie sich meines Vertrauens würdig und forschen Sie nicht weiter.“

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