Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (46 page)

Oh, hätte es doch eine andere Soße oder überhaupt keine Soße zu dem Schokoladenpudding gegeben!

Aber es gab Vanillesoße. Dickflüssig, gelbflüssig: Vanillesoße. Eine ganz banale, gewöhnliche und dennoch einzigartige Vanillesoße. Es gibt wohl nichts Fröhlicheres, aber auch nichts Trauriges auf dieser Welt als eine Vanillesoße. Sanft roch die Vanille vor sich hin und umgab mich mehr und mehr mit Maria, so daß ich sie, die aller Vanille Anstifterin war, die neben dem Matzerath saß, die dessen Hand mit ihrer Hand hielt, nicht mehr sehen und ertragen konnte.

Von seinem Kinderstühlchen rutschte Oskar, hielt sich dabei am Rock der Greffschen fest, blieb ihr, die oben löffelte, zu Füßen liegen und genoß zum erstenmal jene, der Lina Greff eigene Ausdünstung, die jede Vanille sofort überschrie, verschluckte, tötete.

So säuerlich es mich auch ankam, verharrte ich dennoch in der neuen Geruchsrichtung, bis mir alle mit der Vanille zusammenhängenden Erinnerungen betäubt zu sein schienen. Langsam, lautlos und krampflos überkam mich ein befreiender Brechreiz. Während mir die Mockturtlesuppe, stückweise der Schweinebraten, nahezu unversehrt die grünen Büchsenerbsen und jene paar Löffelchen Schokoladenpudding mit Vanillesoße entfielen, begriff ich meine Ohnmacht, schwamm ich in meiner Ohnmacht, breitete sich Oskars Ohnmacht zu Füßen der Lina Greff aus — und ich beschloß von nun an und tagtäglich, meine Ohnmacht zu Frau Greff zu tragen.

FÜNFUNDSIEBENZIG KILO

Vjazma und Brjansk; dann setzte die Schlammperiode ein. Auch Oskar begann, Mitte Oktober einundvierzig kräftig im Schlamm zu wühlen. Man mag mir nachsehen, daß ich den Schlammerfolgen der Heeresgruppe Mitte meine Erfolge im unwegsamen und gleichfalls recht schlammigen Gelände der Frau Lina Greff gegenüberstelle. Ähnlich wie sich dort, kurz vor Moskau, Panzer und LKW's festfuhren, fuhr ich mich fest; zwar drehten sich dort noch die Räder, wühlten den Schlamm auf, zwar gab auch ich nicht nach — es gelang mir wortwörtlich im Greffschen Schlamm Schaum zu schlagen — aber von Geländegewinn konnte weder kurz vor Moskau noch im Schlafzimmer der Greffschen Wohnung gesprochen werden.

Immer noch nicht mag ich diesen Vergleich aufgeben: wie künftige Strategen damals aus den verfahrenen Schlammoperationen ihre Lehre gezogen haben werden, zog auch ich aus dem Kampf gegen das Greffsche Naturereignis meine Schlüsse. Man soll die Unternehmungen an der Heimatfront des letzten Weltkrieges nicht unterschätzen. Oskar war damals siebzehn Jahre alt und wurde trotz seiner Jugend im tückisch unübersichtlichen Übungsgelände der Lina Greff zum Manne herangebildet.

Die militärischen Vergleiche aufgebend, messe ich jetzt Oskars Fortschritte mit künstlerischen Begriffen, sage also: Wenn mir Maria im naiv betörenden Vanillenebel die kleine Form nahelegte, mich mit Lyrismen wie Brausepulver und Pilzsuche vertraut machte, kam ich im streng säuerlichen, vielfach gewobenen Dunstkreis der Greffschen zu jenem breit epischen Atem, der mir heute erlaubt, Fronterfolge und Betterfolge in einem Satz zu nennen. Musik! Von Marias kindlich sentimentaler und dennoch so süßer Mundharmonika direkt aufs Dirigentenpult; denn Lina Greff bot mir ein Orchester, so breit und tief gestaffelt, wie man es allenfalls in Bayreuth oder Salzburg finden kann. Da lernte ich das Blasen, Klimpern, Pusten, Zupfen, Streichen, ob Generalbaß oder Kontrapunkt,ob es sich um Zwölftöner, Neutöner handelte, der Einsatz beim Scherzo, das Tempo beim Andante, mein Pathos war streng trocken und weich flutend zugleich; Oskar holte das Letzte aus der Greffschen heraus und blieb dennoch unzufrieden, wenn nicht unbefriedigt, wie es sich für einen echten Künstler gehört.

Von unserem Kolonialwarengeschäft zur Greffschen Gemüsehandlung brauchte es zwanzig Schrittchen. Der Laden lag schräg gegenüber, lag günstig, weit günstiger lag er als die Bäckermeisterwohnung Alexander Scheffler im Kleinhammerweg. An dieser günstigeren Lage mag es gelegen haben, daß ich es im Studium der weiblichen Anatomie etwas weiter brachte als im Studium meiner Meister Goethe und Rasputin. Vielleicht läßt sich dieser bis heute klaffende Bildungsunterschied durch die Verschiedenheit meiner beiden Lehrerinnen erklären und womöglich entschuldigen. Während mich Lina Greif gar nicht unterrichten wollte, sondern mir schlicht und passiv ihren Reichtum als Anschauungs-und Versuchsmaterial zur Verfügung stellte, nahm Gretchen Scheffler ihren Lehrberuf allzu ernst. Erfolge wollte sie sehen, wollte mich laut lesen hören, wollte meinen schönschreibenden Trommlerfingern zugucken, wollte mich mit der holden Grammatika befreunden und zugleich selbst von dieser Freundschaft profitieren. Als Oskar ihr jedoch alle sichtbaren Zeichen eines Erfolges verweigerte, verlor Gretchen Scheffler die Geduld, wandte sich kurz nach dem Tod meiner armen Mama, nach immerhin sieben Jahren Unterricht, wieder ihrer Strickerei zu und beglückte mich, da die Bäckerehe weiterhin kinderlos blieb, nur noch dann und wann, vor allem an großen Feiertagen, mit selbstgestrickten Pullovern, Strümpfen und Fausthandschuhen. Von Goethe und Rasputin war zwischen uns nicht mehr die Rede, und nur jenen Auszügen aus den Werken beider Meister, die ich immer noch, mal hier, mal da, zumeist auf dem Trockenboden des Mietshauses aufbewahrte, hatte es Oskar zu verdanken, daß dieser Teil seiner Studien nicht ganz und gar versandete; ich bildete mich selbst und kam zu eigenem Urteil.

Die kränkliche Lina Greff jedoch war ans Bett gebunden, konnte mir nicht ausweichen, mich nicht verlassen, denn ihre Krankheit war zwar langwierig, doch nicht ernsthaft genug, als daß der Tod mir die Lehrerin Lina hätte vorzeitig nehmen können. Da aber auf diesem Stern nichts von Dauer ist, war es Oskar, der die Bettlägerige in dem Augenblick verließ, da er seine Studien als abgeschlossen betrachten konnte.

Sie werden sagen: in welch begrenzter Welt mußte sich der junge Mensch heranbilden! Zwischen einem Kolonialwarengeschäft, einer Bäckerei und einer Gemüsehandlung mußte er sein Rüstzeug fürs spätere, mannhafte Leben zusammenlesen. Wenn ich auch zugeben muß, daß Oskar seine ersten, so wichtigen Eindrücke in recht muffig kleinbürgerlicher Umgebung sammelte, gab es schließlich noch einen dritten Lehrer. Ihm blieb es überlassen, Oskar die Welt zu öffnen und ihn zu dem zu machen, was er heute ist, zu einer Person, die ich mangels einer besseren Bezeichnung mit dem unzulänglichen Titel Kosmopolit behänge.

Ich spreche, wie die Aufmerksamsten unter Ihnen gemerkt haben werden, von meinem Lehrer und Meister Bebra, von dem direkten Nachkommen des Prinzen Eugen, vom Sproß aus dem Stamme Ludwigs des Vierzehnten, von dem Liliputaner und Musikalclown Bebra. Wenn ich Bebra sage, meine ich natürlich auch die Dame an seiner Seite, die große Somnambule Roswitha Raguna, die zeitlose Schöne, an die ich oft während jener dunklen Jahre, da Matzerath mir meine Maria wegnahm, denken mußte. Wie alt wird sie sein, die Signora? fragte ich mich. Ist sie ein blühendes zwanzigjähriges, wenn nicht neunzehnjähriges Mädchen? Oder ist sie jene grazile neunundneunzigjährige Greisin, die noch in hundert Jahren unverwüstlich das Kleinformat ewiger Jugend verkörpern wird?

Wenn ich mich recht erinnere, begegnete ich den beiden mir so verwandten Menschen kurz nach dem Tod meiner armen Mama. Wir tranken im Cafe Vierjahreszeiten gemeinsam unseren Mokka, dann trennten sich unsere Wege. Es gab leichte, doch nicht unerhebliche politische Differenzen; Bebra stand dem Reichspropagandaministerium nahe, trat, wie ich seinen Andeutungen unschwer entnehmen konnte, in den Privatgemächern der Herren Goebbels und Göring auf und versuchte mir diese Entgleisung auf verschiedenste Art zu erklären und zu entschuldigen. Da erzählte er von den einflußreichen Stellungen der Hofnarren im Mittelalter, zeigte mir Reproduktionen nach Bildern spanischer Maler, die irgendeinen Philipp oder Carlos mit Hofstaat zeigten; und inmitten dieser steifen Gesellschaften ließen sich einige kraus, spitzig und gepludert gekleidete Narren erkennen, die in etwa Bebras, womöglich auch meine, Oskars Proportionen aufwiesen. Gerade weil mir diese Bildchen gefielen — denn heute darf ich mich einen glühenden Bewunderer des genialen Malers Diego Velazquez nennen — wollte ich es Bebra nicht so leicht machen. Er ließ dann auch davon ab, das Zwergenwesen am Hofe des vierten spanischen Philipp mit seiner Stellung in der Nähe des rheinischen Emporkömmlings Joseph Goebbels zu vergleichen. Von den schwierigen Zeiten sprach er, von den Schwachen, die zeitweilig ausweichen müßten, vom Widerstand, der im verborgenen blühe, kurz es fiel damals das Wörtchen »Innere Emigration«, und deswegen trennten sich Oskars und Bebras Wege.

Nicht daß ich dem Meister grollte. An allen Plakatsäulen suchte ich während der folgenden Jahre die Anschläge der Varietes und Cirkusse nach Bebras Namen ab, fand ihn auch zweimal mit der Signora Raguna angeführt, unternahm dennoch nichts, das zu einem Treffen mit den Freunden hätte führen können.

Auf einen Zufall ließ ich es ankommen, doch der Zufall versagte sich, denn hätten sich Bebras und meine Wege im Herbst zweiundvierzig schon gekreuzt und nicht erst im folgenden Jahr, Oskar wäre nie zum Schüler der Lina Greff, sondern zum Jünger des Meisters Bebra geworden. So aber überquerte ich tagtäglich, oftmals schon am frühen Vormittag den Labesweg, betrat den Gemüseladen, hielt mich zuerst anstandshalber ein halbes Stündchen in der Nähe des immer mehr zum kauzigen Bastler werdenden Händlers auf, sah zu, wie er seine schrulligen, bimmelnden, heulenden, kreischenden Maschinen baute, und stieß ihn an, wenn Kundschaft den Laden betrat; denn Greff nahm zu jener Zeit kaum noch Notiz von seiner Umwelt. Was war geschehen? Was machte den einst so offenen, immer zum Scherz bereiten Gärtner und Jugendfreund so stumm, was ließ ihn so vereinsamen, zum Sonderling und etwas nachlässig gepflegten älteren Mann werden?

Die Jugend kam nicht mehr. Was da heranwuchs, kannte ihn nicht. Seine Gefolgschaft aus der Pfadfinderzeit hatte der Krieg an alle Fronten zerstreut. Feldpostbriefe trafen ein, dann nur noch Feldpostkarten, und eines Tages erhielt Greff über Umwege die Nachricht, daß sein Liebling, Horst Donath, erst Pfadfinder, dann Fähnleinführer beim Jungvolk, als Leutnant am Donez gefallen war.

Greff alterte von jenem Tage an, gab wenig auf sein Äußeres, verfiel gänzlich der Bastelei, so daß man in dem Gemüseladen mehr Klingelmaschinen und Heulmechaniken sah als etwa Kartoffeln und Kohlköpfe. Freilich tat auch die allgemeine Ernährungslage das ihrige; der Laden wurde nur selten und unregelmäßig beliefert, und Greff war nicht gleich Matzerath in der Lage, auf dem Großmarkt, Beziehungen spielen lassend, einen guten Einkäufer abzugeben.

Traurig sah der Laden aus, und eigentlich hätte man froh sein müssen, daß Greffs sinnlose Lärmapparate den Raum zwar auf skurrile, dennoch dekorative Weise schmückten und füllten. Mir gefielen die Produkte, die Greffs immer krauser werdendem Bastlerhirn entsprangen. Wenn ich mir heute die Bindfadenknotengeburten meines Pflegers Bruno ansehe, fühle ich mich an Greffs Ausstellung erinnert. Und genau wie Bruno mein gleichviel lächelndes wie ernstes Interesse an seinen künstlichen Spielereien genießt, freute sich Greff auf seine zerstreute Art, wenn er bemerkte, daß mir die eine oder andere Musikmaschine Vergnügen bereitete. Er, der sich jahrelang nicht um mich gekümmert hatte, zeigte sich enttäuscht, wenn ich nach einem halben Stündchen seinen zur Werkstatt gewandelten Laden verließ und seine Frau, Lina Greff, aufsuchte.

Was soll ich Ihnen viel von jenen Besuchen bei der Bettlägerigen erzählen, die meistens zwei bis zweieinhalb Stunden dauerten. Trat Oskar ein, winkte sie vom Bett her: »Ach du best es, Oskarchen.

Na komm beßchen näher und wenn de willst inne Federn, weil kalt is inne Stube und der Greff nur janz mies jehaizt hat!« So schlüpfte ich zu ihr unter das Federbett, ließ meine Trommel und jene beiden Stöcke, die gerade im Gebrauch waren, vor dem Bett liegen und erlaubte nur einem dritten, abgenutzten und etwas faserigen Trommelstock, mit mir der Lina einen Besuch abzustatten.

Nicht etwa, daß ich mich entkleidete, bevor ich bei Lina zu Bett ging. In Wolle, in Sammet und in Lederschuhen stieg ich ein und fand nach geraumer Zeit, trotz anstrengend einheizender Arbeit, in derselben, fast unverrückten Kleidung aus den verfilzten Federn heraus.

Nachdem ich den Gemüsehändler mehrmals kurz nach dem Verlassen des Linabettes, noch mit den Ausdünstungen seiner Frau behaftet, besucht hatte, bürgerte sich ein Brauchtum ein, dem ich allzugerne nachkam. Noch während ich im Bett der Greffschen weilte und meine letzten Übungen praktizierte, betrat der Gemüsehändler das Schlafzimmer mit einer Schüssel voller warmem Wasser, stellte die auf ein Schemelchen, legte Handtuch und Seife dazu und verließ wortlos, ohne das Bett mit einem einzigen Blick zu belasten, den Raum.

Oskar riß sich zumeist schnell von der ihm gebotenen Nestwärme los, fand zu der Waschschüssel und unterwarf sich und jenen im Bett wirkungsvollen ehemaligen Trommelstock einer gründlichen Reinigung; konnte ich doch verstehen, daß dem Greff der Geruch seiner Frau, selbst wenn der ihm aus zweiter Hand entgegenschlug, unerträglich war.

So aber, frisch gewaschen, war ich dem Bastler willkommen. All seine Maschinen und ihre verschiedenen Geräusche führte er mir vor, und es wundert mich heute noch, daß es zwischen Oskar und Greff trotz dieser späten Vertraulichkeit zu keiner Freundschaft kam, daß mir Greff weiterhin fremd blieb und allenfalls meine Anteilnahme, aber nie meine Sympathie erweckte.

Im September zweiundvierzig — ich hatte gerade sang-und klanglos meinen achtzehnten Geburtstag hinter mich gebracht, im Radio eroberte die sechste Armee Stalingrad — baute Greff die Trommelmaschine. In ein hölzernes Gerüst hängte er zwei ins Gleichgewicht gebrachte, mit Kartoffeln gefüllte Schalen, nahm sodann eine Kartoffel aus der linken Schale: die Waage schlug aus und löste eine "Sperre, die den auf dem Gerüst installierten Trommelmechanismus freigab: das wirbelte, bumste, knatterte, schnarrte, Becken schlugen zusammen, der Gong dröhnte, und alles zusammen fand ein endliches schepperndes, tragisch mißtönendes Finale.

Mir gefiel die Maschine. Immer wieder ließ ich sie mir von Greff demonstrieren. Glaubte Oskar doch, der bastelnde Gemüsehändler habe sie seinetwegen, für ihn erfunden und erbaut. Bald darauf wurde mir allzu deutlich mein Irrtum offenbar. Greff hatte vielleicht von mir Anregungen erhalten, die Maschine jedoch war für ihn bestimmt; denn ihr Finale war auch sein Finale.

Es war ein früher, reinlicher Oktobermorgen, wie ihn nur der Nordostwind frei vors Haus liefert.

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