Die Blechtrommel (19 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Oskar antwortet: Afrika suchte ich unter den Röcken, womöglich Neapel, das man bekanntlich gesehen haben muß. Da flossen die Ströme zusammen, da war die Wasserscheide, da wehten besondere Winde, da konnte es aber auch windstill sein; da rauschte der Regen, aber man saß im Trocknen, da machten die Schiffe fest oder die Anker wurden gelichtet, da saß neben Oskar der liebe Gott, der es schon immer gerne warm gehabt hat, da putzte der Teufel sein Fernrohr, da spielten Engelchen blinde Kuh; unter den Röcken meiner Großmutter war immer Sommer, auch wenn der Weihnachtsbaum brannte, auch wenn ich Ostereier suchte oder Allerheiligen feierte. Nirgendwo konnte ich ruhiger nach dem Kalender leben als unter den Röcken meiner Großmutter.

Sie aber ließ mich auf dem Wochenmarkt überhaupt nicht und sonst nur selten bei ihr einkehren.

Neben ihr hockte ich auf dem Kistchen, hatte es in ihrem Arm ersatzweise warm, sah zu, wie die Ziegelsteine kamen und gingen, und ließ mir von meiner Großmutter den Trick mit der Versuchung beibringen. Vinzent Bronskis alte Geldbörse warf sie an einer Schnur auf den festgetretenen Schnee des Bürgersteiges, den Sandstreuer so beschmutzt hatten, daß nur ich und meine Großmutter den Bindfaden sahen.

Hausfrauen kamen und gingen, wollten nichts kaufen, obgleich alles billig war, wollten es wohl geschenkt bekommen oder noch etwas dazu, denn eine Dame bückte sich nach Vinzents ausgeworfener Börse, hatte schon die Finger am Leder, da holte meine Großmutter die Angel mit der leicht verlegenen gnädigen Frau ein, zu sich an die Kiste lockte sie den gutangezogenen Fisch und blieb ganz freundlich: »No Madamchen, beßchen Butter jefälligst, joldjelb oder Eierchen, die Mandel forn Gulden?«

Auf diese Art verkaufte Anna Koljaiczek ihre Naturprodukte. Ich aber begriff die Magie der Versuchung, nicht jener Versuchung, die die vierzehnjährigen Bengels mit Susi Kater in den Keller lockte, damit dort Arzt und Patient gespielt wurde. Das versuchte mich nicht, dem ging ich aus dem Wege, nachdem mich die Gören unseres Mietshauses, Axel Mischke und Nuchi Eyke als Serumspender, Susi Kater als Ärztin, zum Patienten gemacht hatten, der Arzneien schlucken mußte, die nicht so sandig wie die Ziegelsteinsuppe waren, aber den Nachgeschmack schlechter Fische hatten.

Meine Versuchung gab sich nahezu körperlos und hielt mit den Partnern Distanz.

Lange nach Einbruch der Dunkelheit, ein, zwei Stunden nach Geschäftsschluß, entglitt ich Mama und Matzerath. In die Winternacht stellte ich mich. Auf stillen, fast menschenleeren Straßen, aus den Nischen windgeschützter Hauseingänge beobachtete ich die gegenüberliegenden Schaufenster der Delikateßläden, Kurzwarenhandlungen, aller Geschäfte, die Schuhe, Uhren, Schmuck, also Handliches, Begehrenswertes zur Ansicht boten. Nicht jede Auslage war beleuchtet. Ich zog sogar Geschäfte vor, die abseits von Straßenlaternen ihr Angebot im Halbdunkel hielten, weil das Licht alle, auch den Gewöhnlichsten anzieht, das Halbdunkel jedoch die Auserwählten verweilen läßt.

Es kam mir nicht auf Leute an, die im Vorbeischlendern einen Blick in grelle Schaufenster, mehr auf die Preisschildchen denn auf die Ware warfen, auf Leute, die in spiegelnden Scheiben feststellten, ob der Hut gerade sitze. Die Kunden, auf die ich bei trockener, windstiller Kälte, hinter großflockigem Schneetreiben, inmitten lautlosem, dichtem Schneefall oder unter einem Mond wartete, der mit dem Frost zunahm, diese Kunden blieben vor den Schaufenstern wie auf Anruf stehen, suchten nicht lange in den Regalen, sondern ließen den Blick entweder nach kurzer Zeit oder sogleich auf einem einzigen Ausstellungsobjekt ruhen.

Mein Vorhaben war das des Jägers. Es bedurfte der Geduld, der Kaltblütigkeit und eines freien und sicheren Auges. Erst wenn alle diese Voraussetzungen gegeben waren, kam es meiner Stimme zu, auf unblutige, schmerzlose Art, das Wild zu erlegen, zu verführen, wozu?

Zum Diebstahl: denn ich schnitt mit meinem lautlosesten Schrei den Schaufenstern genau auf Höhe der untersten Auslagen, und wenn es ging, dem begehrten Stück gegenüber kreisrunde Ausschnitte, stieß mit einem letzten Heben der Stimme den Ausschnitt des Fensters ins Innere des Schaukastens, so daß sich ein schnellersticktes Klirren, welches jedoch nicht das Klirren zerbrechenden Glases war, hören ließ - nicht von mir gehört wurde, Oskar stand zu weit weg; aber jene junge Frau mit dem Kaninchenfell auf dem Kragen des braunen, sicher schon einmal gewendeten Wintermantels, sie hörte den kreisrunden Ausschnitt, zuckte bis ins Kaninchenfell, wollte davon, durch den Schnee, blieb aber doch, vielleicht weil es schneite, auch weil bei Schneefall, wenn es nur dicht genug fällt, alles erlaubt ist. Daß sie sich dennoch umsah und Flocken beargwöhnte, sich umsah, als wären hinter den Flocken nicht weitere Flocken, sich immer noch umsah, als ihre rechte Hand schon aus dem gleichfalls mit Kaninchenfell besetzten Muff glitt! Und sah sich dann nicht mehr um, sondern griff in den kreisrunden Ausschnitt, schob erst das abgefallene Glas, das auf die begehrte Auslage gekippt war, zur Seite, zog den einen, dann den linken mattschwarzen Pumps aus dem Loch, ohne die Absätze zu beschädigen, ohne sich an den scharfen Schnittkanten die Hand zu verletzen. Links und rechts verschwanden die Schuhe in den Manteltaschen. Einen Augenblick lang, fünf Schneeflocken lang, sah Oskar ein hübsches, doch nichtssagendes Profil, dachte schon, das ist eine Modepuppe des Kaufhauses Sternfeld, wunderbarerweise unterwegs, da löste sie sich im Schneefall auf, wurde unter dem Gelblicht der nächsten Straßenlaterne noch einmal deutlich, und war, außerhalb des Lichtkegels, sei es als junge, frischverheiratete Frau, sei es als emanzipierte Modepuppe, entkommen.

Mir blieb nach getaner Arbeit - und das Warten, Lauern, Nicht-Trommeln-Dürfen und schließlich Ansingen und Auftauen eisigen Glases war harte Arbeit — nichts anderes blieb mir, als gleich der Diebin, doch ohne Beute, mit gleichviel entzündetem und erkältetem Herzen nach Hause zu gehn.

Nicht immer gelang es mir, wie bei dem oben geschilderten Modellfall, die Kunst des Verführens so eindeutig im Erfolg münden zu lassen. So lief mein Ehrgeiz darauf hinaus, ein Pärchen zum Diebespaar zu machen. Entweder wollten beide nicht, oder er griff schon, und sie riß seine Hand zurück; oder sie war kühn genug und er ging aufs Knie und flehte, bis sie gehorchte und ihn fortan verachtete. Und einmal verführte ich ein im Schneefall besonders blutjung wirkendes Liebespaar vor einem Parfümeriegeschäft. Er gab den Helden ab und raubte Kölnisch Wasser. Sie jammerte und gab vor, auf alle Düfte verzichten zu wollen. Er aber wollte ihren Wohlgeruch und setzte den Willen auch bis zur nächsten Laterne durch. Dort aber, demonstrativ deutlich, als wollte das junge Ding mich ärgern, küßte sie ihn, auf Zehenspitzen stehend, bis er seinen Spuren entgegenlief und das Kölnisch Wasser dem Schaufenster zurückgab.

Ähnlich erging es mir manches Mal mit älteren Herren, von denen ich mehr erwartete, als ihr forscher Schritt durch die Winternacht versprach. Andächtig standen sie vor den Auslagen eines Zigarettengeschäftes, waren mit den Gedanken in Havanna, in Brasilien oder auf den Brissagoinseln, und wenn dann meine Stimme maßgerecht ihren Schnitt machte, endlich den Ausschnitt auf ein Kistchen »Schwarze Weisheit« klappen ließ, klappte ein Taschenmesser in jenen Herren zusammen.

Da machten sie kehrt, da überquerten sie mit dem Spazierstock rudernd die Straße, hasteten, ohne mich zu bemerken, an mir und meinem Hauseingang vorbei und erlaubten Oskar, über ihr verstörtes und wie vom Teufel geschütteltes Altherrengesicht zu lächeln — welchem Lächeln sich leichte Sorge beimischte, denn die Herren, zumeist hochbetagte Zigarrenraucher, schwitzten kalt und heiß, setzten sich also, besonders bei umschlagendem Wetter, der Gefahr einer Erkältung aus.

Versicherungsgesellschaften haben in jenem Winter, den zumeist gegen Diebstahl versicherten Geschäften unseres Vorortes, beträchtliche Entschädigungen zahlen müssen. Wenn ich es auch nie auf Großdiebstähle ankommen ließ und die Scheibenausschnitte mit Absicht so bemaß, daß jeweils nur ein bis zwei Objekte den Auslagen entnommen werden konnten, häuften sich doch die als Einbruch bezeichneten Fälle so, daß die Kriminalpolizei kaum zur Ruhe kam, dennoch von der Presse als untüchtige Polizei beschimpft wurde. Vom November sechsunddreißig bis März siebenunddreißig, da der Oberst Koc in Warschau eine Regierung der Nationalen Front bildete, zählte man vierundsechzig versuchte und achtundzwanzig tatsächliche Einbrüche der gleichen Art. Zwar konnte einem Teil dieser älteren Frauen, Ladenschwengel, Dienstmädchen und pensionierten Oberlehrer, die ja alle keine passionierten Diebe waren, die Beute von Beamten der Kriminalpolizei wieder abgenommen werden, oder es fiel den laienhaften Schaufenstermardern am nächsten Tage, nachdem ihnen der Gegenstand ihrer Wünsche eine schlaflose Nacht bereitet hatte, ein, zur Polizei zu gehen und zu sagen: »Ach, verzeihen Sie. Es soll nicht wieder vorkommen. Auf einmal war da ein Loch in der Scheibe, und als ich mich vom Schreck halbwegs erholt hatte und das geöffnete Schaufenster schon drei Straßenkreuzungen hinter mir lag, mußte ich bemerken, daß ich ein Paar wunderbare, sicher teure, wenn nicht sogar unbezahlbare, fein lederne Herrenhandschuhe in der linken Manteltasche auf ungesetzliche Art beherbergte.«

Da die Polizei nicht an Wunder glaubt, mußten alle, die ertappt wurden, alle, die sich selbst der Polizei stellten, Gefängnisstrafen zwischen vier Wochen und zwei Monaten abbüßen.

Ich selbst litt dann und wann unter Hausarrest, denn Mama ahnte natürlich, auch wenn sie es sich und klugerweise auch der Polizei nicht eingestand, daß meine, dem Glas gewachsene Stimme mit im verbrecherischen Spiel war.

Matzerath gegenüber, der sich betont ehrenvoll geben wollte, ein Verhör anstellte, verweigerte ich jede Aussage und versteckte mich mit immer größerem Geschick hinter meiner Blechtrommel und der permanenten Größe des zurückgebliebenen Dreijährigen. Mama rief nach solchen Verhören immer wieder: »Daran ist da Liliputaner schuld, wo Oskarchen auf de Stirn jeküßt hat. Ahnt' ich doch gleich, daß das was zu bedeuten hat, denn früher war Oskar ganz anders.«

Ich gebe zu, daß Herr Bebra mich leicht und nachhaltend beeinflußte. Konnten mich doch selbst die Hausarreste nicht davon abhalten, bei einigem Glück einen einstündigen, allerdings ungefragten Urlaub zu erwirken, der es mir gestattete, einem Kurzwarengeschäft die berüchtigte kreisrunde Lücke in die Schaufensterscheibe zu singen und einen hoffnungsvollen jungen Mann, der Gefallen an den Auslagen des Geschäftes fand, zum Besitzer einer echtseidenen, weinroten Krawatte zu machen.

Wenn Sie mich fragen: War es das Böse, das Oskar befahl, die ohnehin starke Versuchung einer gutgeputzten Schaufensterscheibe durch einen handgroßen Einlaß zu steigern, muß ich antworten: Es war das Böse. Allein schon deswegen war es das Böse, weil ich in dunklen Hauseingängen stand.

Denn ein Hauseingang ist, wie bekannt sein sollte, der beliebteste Standort des Bösen. Andererseits, ohne das Böse meiner Versuchungen schmälern zu wollen, muß ich heute, da ich weder Gelegenheit noch den Hang zur Versuchung verspüre, mir und meinem Pfleger Bruno sagen: Oskar, du hast all den stillen und in Wunschobjekten verliebten winterlichen Spaziergängern nicht nur die kleinen und mittelgroßen Wünsche erfüllt, du hast den Leuten vor den Schaufensterscheiben auch geholfen, sich selbst zu erkennen. Manch solid elegante Dame, manch braver Onkel, manch ältliches, im Religiösen frischbleibendes Fräulein hätte niemals in sich die Diebesnatur erkannt, wenn nicht deine Stimme zum Diebstahl verführt hätte, obendrein Bürger gewandelt hätte, die zuvor in jedem kleinen und ungeschickten Langfinger einen verdammenswerten und gefährlichen Halunken sahen.

Nachdem ich ihm Abend für Abend aufgelauert und er mir dreimal den Diebstahl verweigert hatte, ehe er Zugriff und zum nie von der Polizei entdeckten Dieb wurde, soll Dr. Erwin Scholtis, Staatsanwalt und am Oberlandesgericht gefürchteter Ankläger, ein milder, nachsichtiger und im Urteil beinahe menschlicher Jurist geworden sein, weil er mir, dem kleinen Halbgott der Diebe, opferte und einen Rasierpinsel, edit Dachshaar, raubte.

Im Januar siebenunddreißig stand ich lange und frierend einem Juweliergeschäft gegenüber, das trotz seiner ruhigen Lage in einer regelmäßig mit Ahornbäumen bepflanzten Vorortallee guten Ruf und Namen hatte. Es zeigte sich mancherlei Wild vor dem Schaufenster mit dem Schmuck und den Uhren, das ich vor anderen Auslagen, vor Damenstrümpfen, Velourshüten, Likörflaschen sofort und ohne Bedenken abgeschossen hätte.

Wie es der Schmuck mit sich bringt: man wird wählerisch, langsam, paßt sich dem Verlauf unendlicher Ketten an, mißt die Zeit mithin nicht mehr nach Minuten, sondern nach Perlenjahren, geht davon aus, daß die Perle den Hals überdauert, daß das Handgelenk, nicht der Armreif magert, daß Ringe in Gräbern gefunden wurden, denen der Finger nicht standhielt; kurz, man nennt den einen Schaufensterbetrachter zu protzig, den anderen zu kleinlich, um ihn mit Schmuck behängen zu können.

Das Schaufenster des Juweliers Bansemer war nicht überladen. Einige ausgesuchte Uhren, Schweizer Qualitätsarbeiten, ein Sortiment Eheringe auf hellblauem Sammet und in der Mitte der Auslagen vielleicht sechs oder, besser, sieben ausgesuchteste Stücke: eine dreimal gewundene, aus verschiedenfarbigem Gold gewirkte Schlange, deren fein ziselierten Kopf ein Topas, zwei Diamanten und als Augen zwei Saphire schmückten und wertvoll machten. Ich mag sonst keinen schwarzen Sammet, aber der Schlange des Juweliers Bansemer war dieser Untergrund angemessen, gleichfalls der graue Sammet, der unter betörend schlichtem, durch gleichmäßige Form auffallenden Silberschmiedearbeiten prickelnde Ruhe verbreitete. Ein Ring, der eine so zierliche Gemme hielt, daß man ihm ansah, er würde die Hände ähnlich zierlicher Frauen verbrauchen, selbst immer zierlicher werden und jenen Grad der Unsterblichkeit erlangen, der wohl nur dem Schmuck vorbehalten ist.

Kettchen, die man nicht ungestraft anlegte, Ketten, die müde machten, und schließlich auf weißgelblichem Sammetpolster, das die Form eines Halsansatzes vereinfacht nachbildete, ein Collier leichtester Art. Fein die Gliederung, die Einfassung verspielt, ein immer wieder durchbrochenes Gespinst. Welche Spinne mochte hier Gold ausgeschieden haben, damit ihr sechs kleine und ein größerer Rubin ins Netz gingen? Und wo saß sie, die Spinne, worauf wartend? Gewiß nicht auf weitere Rubinen, eher auf jemand, dem die ins Netz gegangenen Rubinen gleich geformtem Blut leuchteten und den Blick festnagelten — mit anderen Worten: Wem sollte ich in meinem Sinne oder im Sinne der goldwirkenden Spinne dieses Collier schenken?

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