Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (14 page)

Ich aß in jenen Jahren entschieden zuviel Kuchen. Wie man auf Fotos nachprüfen kann, wurde Oskar davon zwar nicht größer, aber dicker und unförmig. Oft wußte ich mir nach allzu süßen Unterrichtsstunden im Kleinhammerweg nicht anders zu helfen, als daß ich im Labesweg hinter dem Ladentisch, sobald Matzerath außer Sicht war, ein Stück trockenes Brot an einen Bindfaden band, in das norwegische Fäßchen mit eingelegten Heringen tunkte und erst herauszog, wenn das Brot von der Salzlauge bis zum Überdruß durchtränkt war. Sie können sich nicht vorstellen, wie nach dem unmäßigen Kuchengenuß dieser Imbiß als Brechmittel wirkte. Oftmals gab Oskar, um abzunehmen, auf unserem Klosett für über einen Danziger Gulden Kuchen aus der Bäckerei Scheffler von sich; das war damals viel Geld.Mit noch etwas anderem mußte ich dem Gretchen die Unterrichtsstunden bezahlen. Sie, die so gerne Kindersachen nähte und strickte, machte mich zur Ankleidepuppe.

Kittelchen, Mützchen, Höschen, Mäntelchen mit und ohne Kapuzen mußte ich mir in jeder Machart, in allen Farben, aus wechselnden Stoffen anpassen und gefallen lassen.

Ich weiß nicht, ob es Mama, ob es Gretchen war, die mich anläßlich meines achten Geburtstages in einen kleinen, erschießenswerten Zarewitsch verwandelte. Damals erreichte der Rasputinkult der beiden Frauen seinen Höhepunkt. Ein Foto jenes Tages zeigt mich neben dem Geburtstagskuchen, den acht nicht tropfende Kerzen umzäunten, in besticktem Russenkittel, unter keß schief sitzender Kosakenmütze, hinter gekreuzten Patronengurten, in gepluderten weißen Hosen und kurzen Stiefeln stehend.

Ein Glück, daß meine Trommel mit ins Bild durfte. Welch weiteres Glück, daß Gretchen Scheffler, womöglich auf mein Drängen hin, mir ein Kostüm zuschnitt, nähte, schließlich verpaßte, das biedermeierlich und wahlverwandt genug, heute noch in meinem Fotoalbum den Geist Goethes beschwört, von meinen zwei Seelen zeugt, mich also mit einer einzigen Trommel in Petersburg und Weimar gleichzeitig zu den Müttern hinabsteigen, mit Damen Orgien feiern läßt.

FERNWIRKENDER GESANG VOM STOCKTURM AUS GESUNGEN

Fräulein Dr. Hornstetter, die fast jeden Tag auf eine Zigarettenlänge in mein Zimmer kommt, als Ärztin mich behandeln sollte, doch jedesmal von mir behandelt weniger nervös das Zimmer verläßt, sie, die so scheu ist und eigentlich nur mit ihren Zigaretten näheren Umgang pflegt, behauptet immer wieder: ich sei in meiner Jugend kontaktarm gewesen, habe zu wenig mit anderen Kindern gespielt.

Nun, was die anderen Kinder betrifft, mag sie nicht ganz unrecht haben. War ich doch so durch Gretchen Schefflers Lehrbetrieb beansprucht, so zwischen Goethe und Rasputin hin und her gerissen, daß ich selbst beim besten Willen keine Zeit für Ringelreihn und Abzählspiele fand. Sooft ich aber gleich einem Gelehrten die Bücher mied, sogar als Buchstabengräber verfluchte und auf Kontakt mit dem einfachen Volk aus war, stieß ich auf die Gören unseres Mietshauses, durfte froh sein, wenn es mir nach einiger Berührung mit jenen Kannibalen gelang, heil zu meiner Lektüre wieder zurückzufinden.

Oskar konnte die Wohnung seiner Eltern entweder durch den Laden verlassen, dann stand er auf dem Labesweg, oder er schlug die Wohnungstür hinter sich zu, befand sich im Treppenhaus, hatte links die Möglichkeit zur Straße geradeaus, die vier Treppen hoch zum Dachboden, wo der Musiker Meyn die Trompete blies, und als letzte Wahl bot sich der Hof des Mietshauses. Die Straße, das war Kopfsteinpflaster. Auf dem gestampften Sand des Hofes vermehrten sich Kaninchen und wurden Teppiche geklopft. Der Dachboden bot, außer gelegentlichen Duetten mit dem betrunkenen Herrn Meyn, Ausblick, Fernsicht und jenes hübsche, aber trügerische Freiheitsgefühl, das alle Turmbesteiger suchen, das Mansardenbewohner zu Schwärmern macht.

Während der Hof für Oskar voller Gefahren war, bot ihm der Dachboden Sicherheit, bis Axel Mischke und sein Volk ihn auch dort vertrieben. Der Hof hatte die Breite des Mietshauses, maß aber nur sieben Schritte in die Tiefe und stieß mit einem geteerten, oben Stacheldraht treibenden Bretterzaun an drei andere Höfe. Vom Dachboden aus ließ sich dieses Labyrinth gut überschauen: die Häuser des Labesweges, der beiden Querstraßen Hertastraße und Luisenstraße und der entfernt gegenüberliegenden Marienstraße schlössen ein aus Höfen bestehendes beträchtliches Viereck ein, in dem sich auch eine Hustenbonbonfabrik und mehrere Krauterwerkstätten befanden. Hier und da drängten Bäume und Büsche aus den Höfen und zeigten die Jahreszeit an. Sonst waren die Höfe zwar in der Größe unterschiedlich, was aber die Kaninchen und Teppichklopfstangen anging, von einem Wurf. Während es die Kaninchen das ganze Jahr über gab, wurden die Teppiche, laut Hausordnung, nur am Dienstag und Freitag geklopft. An solchen Tagen bestätigte sich die Größe des Hofkomplexes.

Vom Dachboden herab hörte und sah Oskar es: über hundert Teppiche, Läufer, Bettvorleger wurden mit Sauerkohl eingerieben, gebürstet, geklopft und zum endlichen Vorzeigen der eingewebten Muster gezwungen. Hundert Hausfrauen trugen Teppichleichen aus den Häusern, hoben dabei nackte runde Arme, bewahrten ihr Kopfhaar und dessen Frisuren in kurz geknoteten Kopftüchern, warfen die Teppiche über die Klopfstangen, griffen zu geflochtenen Teppichklopfern und sprengten mit trockenen Schlägen die Enge der Höfe.

Oskar haßte diese einmütige Hymne an die Sauberkeit. Auf seiner Trommel kämpfte er gegen den Lärm an und mußte sich dennoch, auch auf dem Dachboden, der ja Distanz bot, seine Ohnmacht den Hausfrauen gegenüber eingestehen. Hundert teppichklopfende Weiber können einen Himmel erstürmen, können jungen Schwalben die Flügelspitzen stumpf machen und brachten Oskars in die Aprilluft getrommeltes Tempelchen mit wenigen Schlägen zum Einsturz.

An Tagen, da keine Teppiche geklopft wurden, turnten die Gören unseres Mietshauses an der hölzernen Teppichklopfstange. Selten war ich auf dem Hof. Nur der Schuppen des alten Herrn Heilandt bot mir dort einige Sicherheit, denn der Alte ließ nur mich in seine Rumpelkammer und erlaubte den Gören kaum einen Blick auf die verrotteten Nähmaschinen, unvollständigen Fahrräder, Schraubstöcke, Flaschenzüge und in Zigarrenschachteln aufbewahrten krummen und wieder gerade geklopften Nägel. Das war so eine Beschäftigung: wenn er nicht Nägel aus Kistenbrettern zog, klopfte er am Vortag gezogene Nägel auf einem Amboß gerade. Abgesehen davon, daß erkeinen Nagel verkommen ließ, war er auch der Mann, der bei Umzügen half, der vor Festtagen die Kaninchen schlachtete, der überall auf dem Hof, im Treppenhaus und auf dem Dachboden seinen Kautabaksaft hinspuckte.

Als die Gören eines Tages, wie Kinder es tun, neben seinem Schuppen eine Suppe kochten, bat Nuchi Eyke den alten Heilandt, dreimal in den Sud zu spucken. Der Alte tat es von weit herholend, verschwand dann in seinem Kabuff und klopfte schon wieder Nägel, als Axel Mischke der Suppe eine weitere Zutat, einen zerstoßenen Ziegelstein, beimengte. Oskar sah diesen Kochversuchen neugierig zu, stand aber abseits. Aus Decken und Lumpen hatten Axel Mischke und Harry Schlager so etwas wie ein Zelt errichtet, damit ihnen kein Erwachsener in die Suppe gucken konnte. Als das Ziegelsteinmehl aufkochte, entleerte Hänschen Kollin seine Taschen und stiftete zwei lebende Frösche für die Suppe, die er am Aktienteich gefangen hatte. Susi Kater, das einzige Mädchen in dem Zelt, zeigte sich um den Mund herum enttäuscht und bitter, als die Frösche so sang-und klanglos, auch ohne jeden letzten Sprungversuch in der Suppe untergingen. Zuerst machte Nuchi Eyke seine Hose auf und pinkelte, ohne auf Susi Rücksicht zu nehmen, in das Eintopfgericht. Axel, Harry und Hänschen Kollin taten es ihm nach. Als Klein-Käschen es den Zehnjährigen zeigen wollte, gab sein Schnibbel nichts her. Alle blickten nun Susi an, und Axel Mischke reichte ihr einen persilblau emaillierten, an den Rändern bestoßenen Kochtopf. Eigentlich wollte Oskar sofort gehen. Aber er wartete noch, bis sich Susi, die wohl keine Höschen unter dem Kleid trug, niederhockte, dabei die Knie umklammerte, sich zuvor den Topf unterschob, mit glatten Augen vor sich hinsah, dann die Nase krauste, als der Topf blechern klingelnd verriet, daß Susi etwas für die Suppe übrig hatte.

Ich lief damals davon. Ich hätte nicht laufen, sondern ruhig gehen sollen. Weil ich aber lief, blickten mir alle nach, die zuvor mit den Augen noch in dem Kochtopf gefischt hatten. Ich hörte Susi Katers Stimme, »Da will uns väpetzen, was scheest ä so!« in meinem Rücken, das stach mich noch, als ich schon die vier Treppen hochstolperte und erst auf dem Dachboden wieder zu Atem kam.

Siebeneinhalb war ich. Susi zählte vielleicht neun. Klein-Käschen war knapp acht. Axel, Nuchi, Hänschen und Harry zehn oder elf. Es gab noch Maria Truczinski. Die war etwas älter als ich, spielte jedoch nie im Hof, sondern mit Puppen in Mutter Truczinskis Küche oder mit ihrer erwachsenen Schwester Guste, die im evangelischen Kindergarten aushalf.

Was Wunder, wenn ich es heute noch nicht anhören kann, wenn Frauen auf Nachttöpfen urinieren. Als Oskar damals die Trommel rührend sein Ohr besänftigt hatte, sich auf dem Dachboden der unten brodelnden Suppe entrückt fühlte, kamen sie alle, barfuß und in Schnürschuhen, die da zur Suppe beigesteuert hatten, und Nuchi brachte die Suppe mit. Sie lagerten sich um Oskar, als Nachzügler kam Klein-Käschen. Sie stießen einander an, zischten: »Nu mach!« bis Axel den Oskar von hinten packte, ihn, seine Arme zwängend, gefügig werden ließ und Susi, mit feuchten, regelmäßigen Zähnen, mit der Zunge dazwischen lachend, nichts dabei fand, wenn man es tue. Nuchi nahm sie den Löffel ab, wischte das Blechding an ihren Schenkeln silbrig, tauchte das Löffelchen in den dampfenden Topf, rührte langsam, den Widerstand des Breies auskostend, einer guten Hausfrau gleich, darin herum, pustete kühlend in den gefüllten Löffel und fütterte endlich Oskar, mich fütterte sie, ich habe so etwas nie wieder gegessen, der Geschmack wird mir bleiben.

Erst als mich jenes um mein Leibeswohl so übermäßig besorgte Volk verlassen hatte, weil es Nuchi in den Topf hinein übel wurde, kroch auch ich in eine Ecke des Trockenbodens, auf dem damals nur einige Bettlaken hingen, und gab die paar Löffel rötlichen Sud von mir, ohne im Ausgespieenen Froschreste entdecken zu können. Auf eine Kiste unter der offenen Bodenluke kletterte ich, schaute auf entlegene Höfe, ließ Ziegelsteinrückstände zwischen den Zähnen knirschen, verspürte den Drang nach einer Tat, musterte die fernen Fenster der Häuser an der Marienstraße, blinkendes Glas, schrie, sang fernwirkend in jene Richtung, konnte zwar keinen Erfolg beobachten und war dennoch von den Möglichkeiten des fernwirkenden Gesanges so überzeugt, daß mir der Hof und die Höfe fortan zu eng wurden, daß ich nach Ferne, Entfernung und Fernblick hungernd jede Gelegenheit wahrnahm, die mich alleine oder an Mamas Hand aus dem Labesweg, dem Vorort führte und den Nachstellungen aller Suppenköche auf unserem engen Hof enthob.

Am Donnerstag jeder Woche machte Mama Einkäufe in der Stadt. Meistens nahm sie mich mit.

Immer nahm sie mich mit, wenn es galt, beim Sigismund Markus in der Zeughauspassage am Kohlenmarkt eine neue Trommel zu kaufen. In jener Zeit, etwa von meinem siebenten bis zum zehnten Lebensjahr schaffte ich eine Trommel in glatt vierzehn Tagen. Vom zehnten bis vierzehnten Jahr bedurfte es keiner Woche, um ein Blech durchzuschlagen. Später sollte es mir gelingen, einerseits eine neue Trommel an einem einzigen Trommlertag zu Schrott zu machen, andererseits, bei ausgeglichenem Gemüt, drei oder vier Monate lang achtsam und dennoch kräftig zu schlagen, ohne daß meinem Blech, bis auf einige Sprünge im Lack, ein Schaden anzusehen gewesen wäre.

Doch hier soll die Rede von jener Zeit sein, da ich unseren Hof mit der Teppichklopfstange, mit dem Nägel klopfenden alten Heilandt, den Suppen erfindenden Gören verließ und mit meiner Mama alle vierzehn Tage beim Sigismund Markus eintreten, im Sortiment seiner Kinderblechtrommeln ein neues Blech aussuchen durfte. Manchmal nahm mich Mama auch mit, .wenn die Trommel noch halbwegs heil war, und ich genoß diese Nachmittage in der farbigen, immer etwas musealen, ständig mit diesen oder jenen Kirchenglocken lärmenden Altstadt.

Zumeist verliefen die Besuche in angenehmer Gleichmäßigkeit. Einige Einkäufe bei Leiser, Sternfeld oder Machwitz, dann wurde der Markus aufgesucht, der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, meiner Mama aussortierte und schmeichelhafteste Artigkeiten zu sagen. Ohne Zweifel machte er ihr den Hof, ließ sich aber, soviel ich weiß, zu größeren Ovationen, als die heiß ergriffene, goldeswert genannte Hand meiner Mama lautlos zu küssen, nie hinreißen — den Kniefall jenes Besuches ausgenommen, von dem hier die Rede sein soll.

Mama, die von der Großmutter Koljaiczek die stattliche, füllig stramme Figur, auch liebenswerte Eitelkeit, gepaart mit Gutmütigkeit, mitbekommen hatte, ließ sich den Dienst des Sigismund Markus um so eher gefallen, als er sie hier und da mit spottbilligen Nähseidesortimenten, im Ramschhandel erworbenen, doch tadellosen Damenstrümpfen eher beschenkte als belieferte. Ganz zu schweigen von meinen, für einen lächerlichen Preis in vierzehntägigen Abständen über den Ladentisch gereichten Blechtrommeln.

Während jedes Besuches bat Mama den Sigismund pünktlich um halb fünf am Nachmittag, mich, den Oskar, bei ihm im Geschäft seiner Obhut überlassen zu dürfen, da sie noch wichtige eilige Besorgungen zu machen habe. Merkwürdig lächelnd verbeugte sich dann der Markus und versprach Mama mit floskelreicher Rede, mich, den Oskar, wie seinen Augapfel zu hüten, während sie ihren so wichtigen Besorgungen nachgehe. Ein ganz leichter, doch nicht verletzender Spott, der seinen Sätzen eine auffallende Betonung gab, ließ Mama gelegentlich erröten und ahnen, daß der Markus Bescheid wußte.

Aber auch ich wußte um die Art der Besorgungen, die Mama wichtig nannte, denen sie allzu eifrig nachkam. Hatte ich sie doch eine Zeitlang in eine billige Pension der Tischlergasse begleiten dürfen, wo sie im Treppenhaus verschwand, um eine knappe Dreiviertelstunde wegzubleiben, während ich bei der meist Mampe schlürfenden Wirtin hinter einer mir wortlos servierten, immer gleich scheußlichen Limonade ausharren mußte, bis Mama, kaum verändert, wiederkam, der Wirtin, die von ihrem Halb und Halb nicht aufblickte, einen Gruß sagte, mich bei der Hand nahm und vergaß, daß die Temperatur ihrer Hand sie verriet. Heiß Hand in Hand suchten wir dann das Cafe Weitzke in der Wollwebergasse auf. Mama bestellte sich einen Mokka, Oskar ein Zitroneneis und wartete, bis prompt und wie zufällig Jan Bronski vorbeikam, der sich zu uns an den Tisch setzte, sich gleichfalls einen Mokka auf die beruhigend kühle Marmorplatte stellen ließ.

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