Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (11 page)

Die Schulbehörde äußerte Bedenken und verlangte ein ärztliches Attest. Hollatz nannte mich einen gesunden Jungen, der dem Wachstum nach einem Dreijährigen gleiche, geistig jedoch, wenn er auch noch nicht recht spreche, einem Fünf-bis Sechsjährigen in nichts nachstehe. Auch sprach er von meinen Schilddrüsen.

Ich verhielt mich bei all den Untersuchungen, während der mir zur Gewohnheit gewordenen Testerei ruhig, gleichgültig bis wohlwollend, zumal mir niemand meine Trommel nehmen wollte. Die Zerstörung der Hollatzschen Schlangen-, Kröten-und Embryonensammlung war allen, die mich da untersuchten und testeten, noch gegenwärtig und fürchtenswert.

Nur zu Hause, und zwar am ersten Schultag, sah ich mich gezwungen, den Diamanten in meiner Stimme Wirkung zeigen zu lassen, da Matzerath, gegen bessere Einsicht handelnd, von mir verlangte, daß ich den Weg zur Pestalozzischule gegenüber der Fröbelwiese ohne meine Trommel zurücklege und sie, meine Blechtrommel, auch nicht in die Pestalozzischule hineinnehme.

Als er schließlich handgreiflich wurde, nehmen wollte, was ihm nicht gehörte, womit er gar nicht umgehen konnte, wofür ihm der Nerv fehlte, schrie ich eine leere Vase entzwei, der man Echtheit nachsagte. Nachdem die echte Vase in Gestalt von echten Scherben auf dem Teppich lag, wollte mich Matzerath, der sehr an der Vase hing, mit der Hand schlagen. Doch da sprang Mama auf, und Jan, der mit Stephan und Schultüte noch schnell und wie zufällig bei uns vorbeischaute, trat dazwischen.

»Ich bitte dich, Alfred«,-sagte er in seiner ruhig salbungsvollen Art, und Matzerath ließ, von Jans blauem und Mamas grauem Blick getroffen, die Hand sinken und steckte sie in die Hosentasche.

Die Pestalozzischule war ein neuer, ziegelroter, mit Sgraffitos und Fresken modern geschmückter, dreistöckiger, länglicher, oben flacher Kasten, der auf lautes Drängen der damals noch recht aktiven Sozialdemokraten hin vom Senat der kinderreichen Vorstadt gebaut wurde. Mir gefiel der Kasten, bis auf seinen Geruch und die sporttreibenden Jugendstilknaben auf den Sgraffitos und Fresken, nicht schlecht.

Unnatürlich winzige und obendrein grün werdende Bäumchen standen zwischen schützenden, dem Krummstab ähnlichen Eisenstäben im Kies vorm Portal. Aus allen Richtungen drangen Mütter vor, die bunte spitze Tüten hielten und schreiende oder musterhafte Knaben nach sich zogen. Noch nie hatte Oskar so viele Mütter in eine Richtung streben sehen. Es mutete an, als pilgerten sie einem Markt zu, auf dem ihre Erstund Zweitgeburten feilgeboten werden sollten.

Schon in der Vorhalle dieser Schulgeruch, der, oft genug beschrieben, jedes bekannte Parfüm dieser Welt an Intimität übertrifft. Auf den Fliesen der Halle standen zwanglos angeordnet vier oder fünf granitene Becken, aus deren Vertiefungen Wasser aus mehreren Quellen gleichzeitig hochsprudelte. Von Knaben, auch solchen in meinem Alter umdrängt, erinnerten sie mich an die Sau meines Onkels Vinzent in Bissau, die sich manchmal auf die Seite warf und einen ähnlich durstig brutalen Andrang ihrer Ferkel erduldete.

Die Knaben beugten sich über die Becken und senkrechten, ständig in sich zusammenfallenden Wassertürmchen, ließen die Haare vornüberfallen und sich von den Fontänen in geöffnete Münder fingern. Ich weiß nicht, ob sie spielten oder tranken. Manchmal richteten sich zwei Knaben fast gleichzeitig und mit geblähten Backen auf, um sich unanständig laut das sicher mit Speichel gemischte und von Brotkrümeln durchsetzte, mundwarme Wasser ins Gesicht zu prusten. Ich, der ich beim Eintritt in den Vorraum leichtsinnigerweise einen Blick in die links anschließende, offene Turnhalle geworfen hatte, verspürte, das lederne Langpferd, die Kletterstangen und Kletterseile, das entsetzliche, immer eine Riesenwelle abverlangende Reck sichtend, einen echten, durch nichts zu überredenden Durst und hätte gleich den anderen Knaben gerne einen Schluck Wasser zu mir genommen. Es war mir aber unmöglich, Mama, die mich an der Hand hielt, zu bitten, Oskar, den Dreikäsehoch, über solch ein Becken zu heben. Selbst wenn ich mir meine Trommel untergestellt hätte, die Fontäne wäre mir unerreichbar geblieben. Als ich jedoch leicht springend einen Blick über den Rand eines dieser Becken warf und bemerken mußte, wie fettige Brotreste den Abfluß des Wassers beträchtlich blockierten und also in der Schale eine üble Brühe stand, verging mir der Durst, den ich mir zwar in Gedanken, aber dennoch leibhaftig zwischen Turngeräten in einer Turnhallenwüstenei irrend, angespeichert hatte.

Mama führte mich monumentale, für Riesen geschlagene Treppen hoch, durch hallende Korridore in einen Raum, über dessen Tür ein Schildchen mit der Aufschrift la hing. Der Raum war voller Knaben in meinem Alter. Die Mütter der Knaben drückten sich an die Wand gegenüber der Fensterfront und hielten die traditionellen spitzbunten, oben mit Seidenpapier verschlossenen, mich überragenden Tüten für den ersten Schultag hinter verschränkten Armen. Mama trug auch solch eine Tüte bei sich.

Als ich an ihrer Hand eintrat, lachten das Volk und gleichfalls des Volkes Mütter. Einem dicklichen Knaben, der mir auf meine Trommel pauken wollte, mußte ich, um nicht Glas zersingen zu müssen, mehrmals gegen das Schienbein treten, woraufhin der Bengel umfiel, mit der Frisur gegen eine Schulbank schlug, weshalb ich von Mama eins auf den Hinterkopf bekam. Der Bengel schrie.

Natürlich schrie ich nicht, denn ich schrie nur, wenn man mir meine Trommel wegnehmen wollte.

Mama, der dieser Auftritt vor den anderen Müttern peinlich war, schob mich in die erste Bank der Bankabteilung neben den Fenstern. Selbstverständlich war die Bank zu groß. Doch weiter nach hin-ten hin, wo das Volk immer gröber und sommersprossiger wurde, waren die Bänke noch größer.

Ich gab mich zufrieden, saß ruhig, weil ich keinerlei Grund zur Beunruhigung hatte. Mama, die mir immer noch verlegen zu sein schien, drückte sich zwischen die anderen Mütter. Wahrscheinlich schämte sie sich meiner sogenannten Zurückgebliebenheit wegen vor ihren Artgenossinnen. Die taten, als wenn sie Grund gehabt hätten, auf ihre, für mein Gefühl viel zu schnell gewachsenen Lümmel stolz zu sein.

Ich konnte nicht aus dem Fenster auf die Fröbelwiese blicken, da mir die Höhe des Fensterbordes genauso wenig angemessen war wie die Größe der Schulbank. Dabei hätte ich gerne einen Blick auf die Fröbelwiese geworfen, auf der, wie ich wußte, Pfadfinder unter der Leitung des Gemüsehändlers Greff Zelte bauten, Landsknecht spielten und, wie es sich für Pfadfinder gehört, Gutes taten. Nicht etwa, daß ich an dieser übertriebenen Verherrlichung des Lagerlebens Anteil genommen hätte. Nur die Figur des kurzbehosten Greff interessierte mich. War seine Liebe zu schmalen, möglichst großäugigen, wenn auch bleichen Knaben doch so groß, daß er ihr die Uniform des Boy-Scout— Erfinders Baden-Powell gegeben hatte.

Durch eine infame Architektur um einen lohnenden Ausblick gebracht, schaute ich mir nur noch den Himmel an und fand schließlich darin Genüge. Immer neue Wolken wanderten von Nordwest nach Südost aus, als hätte jene Richtung den Wolken etwas Besonderes zu bieten gehabt. Meine Trommel, die bisher keinen Schlag lang ans Auswandern gedacht hatte, klemmte ich. mir zwischen die Knie und das Fach der Schulbank. Die für den Rücken bestimmte Lehne schützte Oskars Hinterkopf. Hinter mir schnatterten, brüllten, lachten, weinten und tobten meine sogenannten Mitschüler. Man warf mit Papierkugeln nach mir, aber ich drehte mich nicht, hielt vielmehr die zielbewußten Wolken für ästhetischer als den Anblick einer Horde Grimassen schneidende, völlig überdrehte Rüpel.

Es wurde ruhiger in der Klasse la, als eine Frau eintrat, die sich hinterher Fräulein Spollenhauer nannte. Ich brauchte nicht ruhiger zu werden, da ich zuvor schon still und fast in mich gekehrt auf kommende Dinge gewartet hatte. Um ganz ehrlich zu sein: Oskar hatte es nicht einmal für nötig befunden, auf Kommendes zu warten, er bedurfte ja keiner Zerstreuung, wartete also nicht, sondern saß, nur seine Trommel spürend, im Schulgebänk und hatte
es
vergnügt mit den Wolken hinter oder vielmehr vor den österlich geputzten Schulfensterscheiben.

Fräulein Spollenhauer trug ein eckig zugeschnittenes Kostüm, das ihr ein trocken männliches Aussehen gab. Dieser Eindruck wurde noch durch den knappsteifen, Halsfalten ziehenden, am Kehlkopf schließenden und, wie ich zu bemerken glaubte, abwaschbaren Hemdkragen verstärkt.

Kaum hatte sie in flachen Wanderschuhen die Klasse betreten, wollte sie sich sogleich beliebt machen und stellte die Frage: »Nun, liebe Kinder, könnt ihr auch ein Liedchen singen?«

Als Antwort wurde ihr Gebrüll zuteil, welches sie jedoch als Bejahung ihrer Frage wertete, denn sie stimmte geziert hoch das Frühlingslied »Der Mai ist gekommen« an, obgleich wir Mitte April hatten.

Kaum hatte sie den Mai verkündet, brach die Hölle los. Ohne auf das Zeichen zum Einsatz zu warten, ohne den Text recht zu kennen, ohne das geringste Gefühl für den simplen Rhythmus dieses Liedchens, begann die Bande hinter mir, den Putz an den Wänden lockernd, durcheinanderzugrölen.

Trotz ihrer gelblichen Haut, trotz Bubikopf und unterm Kragen vorlugendem männlichen Schlips tat mir die Spollenhauer leid. Von den Wolken, die offensichtlich schulfrei hatten, mich losreißend, raffte ich mich auf, zog mit einem Griff die Stöcke unter meinen Hosenträgern hervor und trommelte laut und einprägsam den Takt des Liedes. Aber die Bande hinter mir hatte keinen Sinn und kein Ohr dafür.

Nur Fräulein Spollenhauer nickte mir aufmunternd zu, lächelte die an der Wand klebende Mütterschar an, blinzelte besonders zu Mama hinüber und veranlaßte mich, dieses als Zeichen zu ruhigem, schließlich kompliziertem, alle meine Kunststücke aufzeigendem Weitertrommeln zu werten. Längst hatte die Bande hinter mir aufgehört, die barbarischen Stimmen zu mischen. Schon bildete ich mir ein, meine Trommel unterrichte, lehre, mache meine Mitschüler zu meinen Schülern, da stellte sich die Spollenhauer vor meine Bank, blickte mir aufmerksam und nicht einmal ungeschickt, vielmehr selbstvergessen lächelnd auf Hände und Trommelstöcke, versuchte sogar, meinen Takt mitzuklopfen, gab sich für ein Minütchen als ein nicht unsympathisches älteres Mädchen, das, seinen Lehrberuf vergessend, der ihm vorgeschriebenen Existenzkarikatur entschlüpft, menschlich wird, das heißt, kindlich, neugierig, vielschichtig, unmoralisch.

Als es dem Fräulein Spollenhauer jedoch nicht gelang, meinen Trommlertakt sogleich und richtig nachzuklopfen, verfiel sie wieder ihrer alten gradlinig dummen, obendrein schlechtbezahlten Rolle, gab sich den Ruck, den sich Lehrerinnen dann und wann geben müssen, sagte: »Du bist sicher der kleine Oskar. Von dir haben wir schon viel gehört. Wie schön du trommeln kannst. Nicht wahr, Kinder? Unser Oskar ist ein guter Trommler?«

Die Kinder brüllten, die Mütter rückten enger zusammen, die Spollenhauer hatte sich wieder in der Gewalt. »Doch nun«, fistelte sie, »wollen wir die Trommel im Klassenschrank verwahren, sie wird müde sein und schlafen wollen. Nachher, wenn die Schule aus ist, sollst du deine Trommel wiederbekommen.«

Noch während sie diese scheinheilige Rede abspulte, zeigte sie mir ihre kurzbeschnittenen Lehrerinnenfingernägel, wollte sich an der Trommel, die, bei Gott, weder müde war noch schlafen wollte, zehnmal kurzbeschnitten vergreifen. Vorerst hielt ich fest, schloß die Arme in Pulloverärmeln um das weißrotgeflammte Rund, blickte sie an, bückte dann, da sie unentwegt den uralten schablonenhaften Volksschullehrerinnenanblick gewährte, durch sie hindurch, fand im Inneren des Fräulein Spollenhauer Erzählenswertes genug für drei unmoralische Kapitel, riß mich aber, da es um meine Trommel ging, von' ihrem Innenleben los und registrierte, als mein Blick zwischen ihren Schulterblättern hindurchfand, auf guterhaltener Haut einen guldenstückgroßen, langbehaarten Leberfleck.

Sei es, daß sie sich von mir durchschaut fühlte, tat es meine Stimme, mit der ich ihr warnend, keinen Schaden anrichtend, am rechten Brillenglas kratzte: sie gab die nackte Gewalt, die ihr die Knöchel schon weiß kreidete, auf, vertrug wohl das Schaben am Glas nicht, das befahl ihr eine Gänsehaut, fröstelnd ließ sie von meiner Trommel ab, sagte: »Du bist aber ein böser Oskar«, warf meiner Mama, die nicht wußte, wo hinblicken, einen vorwurfsvollen Blick zu, ließ mir meine hellwache Trommel, machte kehrt, marschierte mit flachen Absätzen zum Pult, kramte aus ihrer Aktentasche eine andere, wahrscheinlich die Lesebrille hervor, nahm sich jenes Gestell, an dem meine Stimme geschabt hatte, wie man mit Fingernägeln an Fensterscheiben schabt, mit entschiedener Bewegung von der Nase, tat so, als hätte ich ihr die Brille geschändet, setzte sich, den kleinen Finger beim Aufsetzen wegspreizend, das zweite Gestell auf die Nase, straffte dann ihre Figur, daß es knackte, und gab, während sie abermals in die Aktentasche langte, zu verstehen: »Ich lese euch jetzt den Stundenplan vor.«

Einen Stoß Zettel fischte sie aus dem Schweinsleder, hob einen Zettel für sich ab, gab den Rest an die Mütter, so auch an Mama weiter und verriet endlich den schon unruhig werdenden Sechsjährigen, was der Stundenplan zu bieten hatte. »Montag: Religion, Schreiben, Rechnen, Spielen; Dienstag: Rechnen,Schönschreiben,Singen,Naturkunde,-Mittwoch: Rechnen, Schreiben, Zeichnen, Zeichnen; Donnerstag: Heimatkunde, Rechnen, Schreiben, Religion; Freitag: Rechnen, Schreiben, Spielen, Schönschreiben; Sonnabend: Rechnen, Singen, Spielen, Spielen.«

Das verkündigte Fräulein Spollenhauer wie ein unabänderliches Schicksal, gab diesem Produkt einer Volksschullehrerkonferenz ihre gestrengte, keinen Buchstaben verschmähende Stimme, wurde dann, sich ihrer Seminarzeit erinnernd, fortschrittlich milde, jauchzte, in erzieherische Lustigkeit ausbrechend: »Das, liebe Kinder, wollen wir nun alle zusammen wiederholen. Bitte — Montag?«

Die Horde brüllte Montag.

Sie darauf: »Religion?« Die getauften Heiden brüllten das Wörtchen Religion. Ich schonte meine Stimme, trommelte dafür die religiösen Silben aufs Blech.

Hinter mir schrien sie, durch die Spollenhauer veranlaßt: »Schrei — ben!« Zweimal gab meine Trommel Antwort. »Rech — nen!« Abermals zwei Schläge.

So ging das Geschrei hinter mir, das Vorbeten der Spollenhauer vor mir weiter, und ich schlug mäßig, gute Miene zum läppischen Spiel machend, die Silben auf meinem Blech an, bis die Spollenhauer — ich weiß nicht auf wessen Geheiß — aufsprang, offensichdich erbost —doch nicht etwa wegen der Lümmel hinter mir wurde sie sauer — ich gab ihr hektisches Wangenrot, Oskars harmlose Trommel war ihr Stein des Anstoßes genug, einen taktsicheren Trommler ins Gebet zu nehmen.

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