Die Blechtrommel (6 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Als Alfred Matzerath im Jahre dreiundzwanzig, da man für den Gegenwert einer Streichholzschachtel ein Schlafzimmer tapezieren, also mit Nullen mustern konnte, meine Mama heiratete, war Jan der eine Trauzeuge, ein Kolonialwarenhändler Mühlen der andere. Von jenem Mühlen weiß ich nicht viel zu berichten. Er ist nur nennenswert, weil Mama und Matzerath von ihm einen schlechtgehenden, durchPumpkundschaft ruinierten Kolonialwarenladen im Vorort Langfuhr zu einem Zeitpunkt übernahmen, da die Rentenmark eingeführt wurde. Innerhalb kurzer Zeit gelang es Mama, die sich im Kellerladen auf dem Troyl geschickte Umgangsformen mit jeder Art Pumpkundschaft erworben hatte, die dazu einen angeborenen Geschäftssinn, Witz und Schlagfertigkeit besaß, das verkommene Geschäft soweit wieder hochzuarbeiten, daß Matzerath seinen Vertreterposten in der ohnehin überlaufenen Papierbranche aufgeben mußte, um im Geschäft helfen zu können.

Die beiden ergänzten sich auf wunderbare Weise. Was Mama hinter dem Ladentisch der Kundschaft gegenüber leistete, erreichte der Rheinländer im Umgang mit Vertretern und beim Einkauf auf dem Großmarkt. Dazu kam die Liebe Matzeraths zur Kochschürze, zur Arbeit in der Küche, die auch das Abwaschen einbezog und Mama, die es mehr mit Schnellgerichten hielt, entlastete.

Die Wohnung, die sich dem Geschäft anschloß, war zwar eng und verbaut, aber verglichen mit den Wohnverhältnissen auf dem Troyl, die ich nur vom Erzählen her kenne, kleinbürgerlich genug, daß sich Mama, zumindest während der ersten Ehejahre, im Labesweg wohlgefühlt haben muß.

Außer dem langen, leicht geknickten Korridor, in dem sich zumeist Persilpackungen stapelten, gab es die geräumige, jedoch gleichfalls mit Waren wie Konservendosen, Mehlbeuteln und Haferflockenpäckchen zur guten Hälfte belegte Küche. Das aus zwei Fenstern auf den sommers mit Ostseemuscheln verzierten Vorgarten und die Straße blickende Wohnzimmer bildete das Kernstück der Parterrewohnung. Wenn die Tapete viel Weinrot hatte, bezog beinahe Purpur die Chaiselongue.

Ein ausziehbarer, an den Ecken abgerundeter Eßtisch, vier schwarze gelederte Stühle und ein rundes Rauchtischchen, das ständig seinen Platz wechseln mußte, standen schwarzbeinig auf blauem Teppich.

Schwarz und golden zwischen den Fenstern die Standuhr. Schwarz an die purpurne Chaiselongue stoßend, das zuerst gemietete, später langsam abgezahlte Klavier, mit Drehschemelchen auf weißgelblichem Langhaarfell. Demgegenüber das Büfett. Das schwarze Büfett mit von schwarzen Eierstäben eingefaßten, geschliffenen Schiebefenstern, mit schwerschwarzen Fruchtornamenten auf den unteren, das Geschirr und die Tischdecken verschließenden Türen, mit schwarzgekrallten Beinen, schwarz profiliertem Aufsatz — und zwischen der Kristallschale mit Zierobst und dem grünen, in einer Lotterie gewonnenen Pokal jene Lücke, die dank der geschäftlichen Tüchtigkeit meiner Mama später mit einem hellbraunen Radioapparat geschlossen werden sollte.

Das Schlafzimmer war in Gelb gehalten und sah auf den Hof des vierstöckigen Mietshauses. Glauben Sie mir bitte, daß der Betthimmel der breiten Eheburg hellblau war, daß am Kopfende im hellblauen Licht die gerahmte, verglaste, büßende Magdalena fleischfarben in einer Höhle lag, zum rechten oberen Bildrand aufseufzte und vor der Brust soviel Finger rang, daß man immer wieder, mehr als zehn Finger vermutend, nachzählen mußte. Dem Ehebett gegenüber der weiß gelackte Kleiderschrank mit Spiegeltüren, links ein Frisiertoilettchen, rechts eine Kommode mit Marmor drauf, von der Decke hängend, nicht stoffbespannt wie im Wohnzimmer, sondern an zwei Messingarmen unter leichtrosa Porzellanschalen, so daß die Glühbirnen sichtbar blieben, Licht verbreitend: die Schlafzimmerlampe.

Ich habe heute einen langen Vormittag zertrommelt, habe meiner Trommel Fragen gestellt, wollte wissen, ob die Glühbirnen in unserem Schlafzimmer vierzig oder sechzig Watt zählten. Es ist nicht das erste Mal, daß ich diese, für mich so wichtige Frage mir und meiner Trommel stelle. Oft dauert es Stunden, bis ich zu jenen Glühbirnen zurückfinde. Denn müssen nicht jedesmal die tausend Lichtquellen, die ich beim Betreten und Verlassen vieler Wohnungen durch Ein-und Ausschalten der entsprechenden Schaltdosen belebte oder einschlafen ließ, vergessen werden, damit ich durch floskellosestes Trommeln aus einem Wald genormter Beleuchtungskörper zu jenen Leuchten unseres Schlafzimmers im Labesweg zurückfinde?

Mama kam zu Hause nieder. Als die Wehen einsetzten, stand sie noch im Geschäft und füllte Zucker in blaue Pfund-und Halbpfundtüten ab. Schließlich war es für den Transport in die Frauenklinik zu spät; eine ältere Hebamme, die nur noch dann und wann zu ihrem Köfferchen griff, mußte aus der nahen Hertastraße gerufen werden. Im Schlafzimmer half sie mir und Mama, voneinander loszukommen.

Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen. Noch heute kommt mir deshalb der Bibeltext: »Es werde Licht und es ward Licht« — wie der gelungenste Werbeslogan der Firma Osram vor. Bis auf den obligaten Dammriß verlief meine Geburt glatt. Mühelos befreite ich mich aus der von Müttern, Embryonen und Hebammen gleichviel geschätzten Kopflage.

Damit es sogleich gesagt sei: Ich gehörte zu den hellhörigen Säuglingen, deren geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist und sich fortan nur noch bestätigen muß. So unbeeinflußbar ich als Embryo nur auf mich gehört und mich im Fruchtwasser spiegelnd geachtet hatte, so kritisch lauschte ich den ersten spontanen Äußerungen der Eltern unter den Glühbirnen. Mein Ohr war hellwach. Wenn es auch klein, geknickt, verklebt und allenfalls niedlich zu benennen war, bewahrte es dennoch jede jener für mich fortan so wichtigen, weil als erste Eindrücke gebotenen Parolen. Noch mehr: was ich mit dem Ohr einfing, bewertete ich sogleich mit winzigstem Hirn und beschloß, nachdem ich alles Gehörte genug bedacht hatte, dieses und jenes zu tun, anderes gewiß zu lassen.

»Ein Junge«, sagte jener Herr Matzerath, der in sich meinen Vater vermutete. »Er wird später einmal das Geschäft übernehmen. Jetzt wissen wir endlich, wofür wir uns so abarbeiten.«Mama dachte weniger ans Geschäft, mehr an die Ausstattung ihres Sohnes: »Na, wußt' ich doch, daß es ein Jungchen ist, auch wenn ich manchmal jesagt hab', es wird ne Marjell.«

So machte ich verfrühte Bekanntschaft mit weiblicher Logik und hörte mir hinterher an: »Wenn der kleine Oskar drei Jahre alt ist, soll er eine Blechtrommel bekommen.«

Längere Zeit mütterliches und väterliches Versprechen gegeneinander abwägend, beobachtete und belauschte ich, Oskar, einen Nachtfalter, der sich ins Zimmer verflogen hatte. Mittelgroß und haarig umwarb er die beiden Sechzig-Watt-Glühbirnen, warf Schatten, die in übertriebenem Verhältnis zur Spannweite seiner Flügel den Raum samt Inventar mit zuckender Bewegung deckten, füllten, erweiterten. Mir blieb jedoch weniger das Licht-und Schattenspiel, als vielmehr jenes Geräusch, welches zwischen Falter und Glühbirne laut wurde: Der Falter schnatterte, als hätte er es eilig, sein Wissen loszuwerden, als käme ihm nicht mehr Zeit zu für spätere Plauderstunden mit Lichtquellen, als wäre das Zwiegespräch zwischen Falter und Glühbirne in jedem Fall des Falters letzte Beichte und nach jener Art von Absolution, die Glühbirnen austeilen, keine Gelegenheit mehr für Sünde und Schwärmerei.

Heute sagt Oskar schlicht: Der Falter trommelte. Ich habe Kaninchen, Füchse und Siebenschläfer trommeln hören. Frösche können ein Unwetter zusammentrommeln. Dem Specht sagt man nach, daß er Würmer aus ihren Gehäusen trommelt. Schließlich schlägt der Mensch auf Pauken, Becken, Kessel und Trommeln. Er spricht von Trommelrevolvern, vom Trommelfeuer, man trommelt jemanden heraus, man trommelt zusammen, man trommelt ins Grab. Das tun Trommelknaben, Trommelbuben.

Es gibt Komponisten, die schreiben Konzerte für Streicher und Schlagzeug. Ich darf an den Großen und Kleinen Zapfenstreich erinnern, auch auf Oskars bisherige Versuche hinweisen; all das ist nichts gegen die Trommelorgie, die der Nachtfalter anläßlich meiner Geburt auf zwei simplen Sechzig-Watt-Glühbirnen veranstaltete. Vielleicht gibt es Neger im dunkelsten Afrika, auch solche in Amerika, die Afrika noch nicht vergessen haben, vielleicht mag es diesen rhythmisch organisierten Leuten gegeben sein, gleich oder ähnlich meinem Falter oder afrikanische Falter imitierend — die ja bekanntlich noch größer und prächtiger als die Falter Osteuropas sind — zuchtvoll und entfesselt zugleich zu trommeln; ich halte meine osteuropäischen Maßstäbe, halte mich also an jenen mittelgroßen, bräunlich gepuderten Nachtfalter meiner Geburtsstunde, nenne ihn Oskars Meister.

Es war in den ersten Septembertagen. Die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau. Von fernher schob ein spätsommerliches Gewitter, Kisten und Schränke verrückend, durch die Nacht. Merkur machte mich kritisch, Uranus einfallsreich, Venus ließ mich ans kleine Glück, Mars an meinen Ehrgeiz glauben. Im Haus des Aszendenten stieg die Waage auf, was mich empfindlich stimmte und zu Übertreibungen verführte.

Neptun bezog das zehnte, das Haus der Lebensmitte und verankerte mich zwischen Wunder und Täuschung. Saturn war es, der im dritten Haus in Opposition zu Jupiter mein Herkommen in Frage stellte. Wer aber schickte den Falter und erlaubte ihm und dem oberlehrerhaften Gepolter eines spätsommerlichen Donnerwetters, in mir die Lust zur mütterlicherseits versprochenen Blechtrommel zu steigern, mir das Instrument immer handlicher und begehrlicher zu machen?

Äußerlich schreiend und einen Säugling blaurot vortäuschend, kam ich zu dem Entschluß, meines Vaters Vorschlag, also alles was das Kolonialwarengeschäft betraf, schlankweg abzulehnen, den Wunsch meiner Mama jedoch zu gegebener Zeit, also anläßlich meines dritten Geburtstages, wohlwollend zu prüfen.

Neben all diesen Spekulationen, meine Zukunft betreffend, bestätigte ich mir: Mama und jener Vater Matzerath hatten nicht das Organ, meine Einwände und Entschlüsse zu verstehen und gegebenenfalls zu respektieren. Einsam und unverstanden lag Oskar unter den Glühbirnen, folgerte, daß das so bleibe, bis sechzig, siebenzig Jahre später ein endgültiger Kurzschluß aller Lichtquellen Strom unterbrechen werde, verlor deshalb die Lust, bevor dieses Leben unter den Glühbirnen anfing; und nur die in Aussicht gestellte Blechtrommel hinderte mich damals, dem Wunsch nach Rückkehr in meine embryonale Kopflage stärkeren Ausdruck zu geben.

Zudem hatte die Hebamme mich schon abgenabelt; es war nichts mehr zu machen.

DAS FOTOALBUM

Ich hüte einen Schatz. All die schlimmen, nur aus Kalendertagen bestehenden Jahre lang habe ich ihn gehütet, versteckt, wieder hervorgezogen; während der Reise im Güterwagen drückte ich ihn mir wertvoll gegen die Brust, und wenn ich schlief, schlief Oskar auf seinem Schatz, dem Fotoalbum.

Was täte ich ohne dieses alles deutlich machende, offen zu Tage liegende Familiengrab?

Hundertundzwanzig Seiten hat es. Auf jeder Seite kleben neben-und untereinander, rechtwinklig, sorgfältig verteilt, die Symmetrie hier wahrend, dort in Frage stellend, vier oder sechs, manchmal nur zwei Fotos. Es ist in Leder gebunden und riecht, je älter es wird, um so mehr danach. Es gab Zeiten, da Wind und Wetter dem Album zusetzten. Die Fotos lösten sich, zwangen mich durch ihren hilflosen Zustand, Ruhe und Gelegenheit zu suchen, damit Klebstoff den fast verlorenen Bildchen ihren angestammten Platz sicherte.

Was auf dieser Welt, welcher Roman hätte die epische Breite eines Fotoalbums? Der liebe Gott, der uns als fleißiger Amateur jeden Sonntag von oben herab, also schrecklich verkürzt fotografiert undmehr oder weniger gut belichtet in sein Album klebt, möge mich sicher und jeden noch so genußvollen, doch unschicklich langen Aufenthalt verhindernd, durch dieses mein Album leiten und Oskars Liebe zum Labyrinthischen nicht nähren; ich möchte doch allzu gerne den Fotos die Originale nachliefern.

So obenhin bemerkt: da gibt es die verschiedensten Uniformen, da wechseln die Mode und der Haarschnitt, da wird Mama dicker, Jan schlaffer, da gibt es Leute, die kenne ich gar nicht, da darf man raten: wer machte die Aufnahme, da geht es schließlich bergab; und aus dem Kunstfoto der Jahrhundertwende degeneriert sich das Gebrauchsfoto unserer Tage. Nehmen wir jenes Denkmal meines Großvaters Koljaiczek und dieses Paßfoto meines Freundes Klepp. Ein bloßes Nebeneinanderhalten des bräunlich getönten Großvaterporträts und des glatten, nach einem Stempel schreienden Kleppschen Paßfotos macht mir immer wieder deutlich, wohin uns der Fortschritt auf dem Gebiet des Fotografierens gebracht hat. Allein schon das Drum und Dran dieser Schnellfotografiererei.

Dabei muß ich mir noch mehr Vorwürfe als Klepp machen, da ich, der Besitzer dieses Albums, verpflichtet gewesen wäre, das Niveau zu wahren. Sollte uns eines Tages die Hölle blühen, wird eine der ausgesuchtesten Qualen darin bestehen, den nackten Menschen mit den gerahmten Fotos seiner Tage in einen Raum zu sperren. Schnell etwas Pathos: Oh Mensch zwischen Momentaufnahmen, Schnappschüssen, Paßfotos! Mensch im Blitzlicht, Mensch aufrecht stehend vor Pisas schiefem Turm, Kabinenmensch, der sein rechtes Ohr belichten lassen muß, damit er paßwürdig wird! Und — Pathos weg: Vielleicht wird auch diese Hölle erträglich sein, weil ja die schlimmsten Aufnahmen nur geträumt, nicht gemacht, oder wenn gemacht, nicht entwickelt werden.

Klepp und ich ließen die Aufnahmen während unserer ersten Zeit in der Jülicher Straße, da wir Spaghetti essend Freundschaft schlössen, machen und auch entwickeln. Ich trug mich damals mit Reiseplänen. Das heißt, ich war so traurig, daß ich eine Reise machen und deshalb einen Paß beantragen wollte. Da ich aber nicht genügend Geld hatte, um eine vollwertige, also Rom, Neapel oder wenigstens Paris einschließende Reise finanzieren zu können, war ich froh über diesen Mangel an Bargeld, denn nichts wäre trauriger gewesen, als in bedrücktem Zustand verreisen zu müssen. Da wir beide aber Geld genug hatten, um ins Kino gehen zu können, besuchten Klepp und ich in jener Zeit Lichtspielhäuser, in denen, Klepps Geschmack folgend, Wildwestfilme, meinem Bedürfnis nach.

Streifen gezeigt wurden, auf denen Maria Schell als Krankenschwester weinte und der Borsche als Chefarzt kurz nach schwierigster Operation bei offener Balkontür Beethovensonaten spielte und Verantwortung zeigte.

Wir litten sehr unter der nur zweistündigen Dauer der Filmvorführungen. Manches Programm hätte man sich zweimal ansehen mögen. Oftmals erhoben wir uns auch nach Filmschluß, um an der Kasse abermals ein Billett für dieselben Darbietungen zu erstehen. Aber sobald wir den Kinosaal verlassen hatten und die längere oder kürzere Menschenreihe vor der Tageskasse sahen, schwand uns der Mut.

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