Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (3 page)

Hier muß ich den Protest meiner Mama einschieben, denn sie hat immer bestritten, auf dem Kartoffelacker gezeugt worden zu sein. Zwar habe ihr Vater — soviel gab sie zu — es dort schon versucht, allein seine Lage und gleichviel die Position der Anna Bronski seien nicht glücklich genug gewählt gewesen, um dem Koljaiczek die Voraussetzungen fürs Schwängern zu schaffen.

»Es muß in der Nacht auf der Flucht passiert sein oder in Onkel Vinzents Kastenwagen oder sogar erst auf dem Troyl, als wir bei den Flößern Kammer und Unterschlupf fanden.«

Mit solchen Worten pflegte meine Mama die Begründung ihrer Existenz zu datieren, und meine Großmutter, die es eigentlich wissen mußte, nickte dann geduldig und gab der Welt zu verstehen:

»Jeweß Kindchen, auf Kastenwagen wird jewaisen sein oder auf Troyl erst, nur nich auf Acker: weil windig war und hat auch jeregnet wie Deikert komm raus.«

Vinzent hieß der Bruder meiner Großmutter. Nach dem frühen Tode seiner Frau war er nach Tschenstochau gepilgert und hatte von der Matka Boska Czestochowska Weisung erhalten, in ihr die zukünftige Königin Polens zu sehen. Seitdem kramte er nur noch in merkwürdigen Büchern, fand in jedem Satz den Thronanspruch der Gottesgebärerin auf das Reich der Polen bestätigt, überließ seiner Schwester den Hof und die paar Äcker. Jan, sein damals vierjähriger Sohn, ein schwächliches, immer zum Weinen bereites Kind, hütete Gänse, sammelte bunte Bildchen und, verhängnisvoll früh, Briefmarken.

In jenes der himmlischen Königin Polens geweihte Gehöft brachte meine Großmutter die Kartoffelkörbe und den Koljaiczek, daß der Vinzent erfuhr, was geschehen, nach Ramkau lief und den Priester heraustrommelte, damit der ausgerüstet mit Sakramenten komme und die Anna dem Joseph antraue. Kaum hatte Hochwürden schlaftrunken seinen durchs Gähnen in die Länge gezogenen Segen ausgeteilt und mit einer guten Seite Speck versehen den geweihten Rücken gezeigt, spannte Vinzent das Pferd vor den Kastenwagen, packte das Hochzeitspaar hinten darauf, bettete es auf Stroh und leeren Säcken, setzte seinen frierenden, dünn weinenden Jan neben sich auf den Bock und gab dem Pferd zu verstehen, daß es jetzt geradeaus und scharf in die Nacht hineingehe: die Hochzeitsreisenden hatten es eilig.

In immer noch dunkler, doch schon verausgabter Nacht erreichte das Gefährt den Holzhafen der Provinzhauptstadt. Befreundete Männer, die gleich dem Koljaiczek den Beruf der Flößer ausübten, nahmen das flüchtende Paar auf. Vinzent konnte wenden, das Pferdchen wieder gen Bissau treiben; eine Kuh, die Ziege, die Sau mit den Ferkeln, acht Gänse und der Hofhund wollten gefüttert, der Sohn Jan ins Bett gelegt werden, denn er fieberte leicht.

Joseph Koljaiczek blieb drei Wochen lang verborgen, gewöhnte seinem Haar eine neue, gescheitelte Frisur an, nahm sich den Schnauz ab, versorgte sich mit unbescholtenen Papieren und fand Arbeit als Flößer Joseph Wranka. Warum aber mußte Koljaiczek mit den Papieren des bei einer Schlägerei vom Floß gestoßenen, ohne Wissen der Behörden oberhalb Modlin im Fluß Bug ertrunkenen Flößers Wranka in der Tasche, bei den Holzhändlern und Sägereien vorsprechen? Weil er, der eine Zeitlang die Flößerei aufgegeben, in einer Sägemühle bei Schweiz gearbeitet, dort Streit mit dem Sägemeister wegen eines von Koljaiczeks Hand aufreizend weißrot gestrichenen Zaunes bekommen hatte. Gewiß um der Redensart recht zu geben, die da besagt, man könne einen Streit vom Zaune brechen, brach sich der Sägemeister je eine weiße und eine rote Latte aus dem Zaun, zerschlug die polnischen Latten auf Koljaiczeks Kaschubenrücken zu soviel weißrotem Brennholz, daß der Geprügelte Anlaß genug fand, in der folgenden, sagen wir, sternklaren Nacht die neuerbaute, weißgekälkte Sägemühle rotflammend zur Huldigung an ein zwar aufgeteiltes, doch gerade deshalb geeintes Polen werden zu lassen.

Koljaiczek war also ein Brandstifter, ein mehrfacher Brandstifter, denn in ganz Westpreußen boten in der folgenden Zeit Sägemühlen und Holzfelder den Zunder für zweifarbig aufflackernde Nationalgefühle. Wie immer, wenn es um Polens Zukunft geht, war auch bei j enen Bränden die Jungfrau Maria mit von der Partie, und es mag Augenzeugen gegeben haben — vielleicht leben heute noch welche —, die eine mit Polens Krone geschmückte Mutter Gottes auf den zusammenbrechenden Dächern mehrerer Sägemühlen gesehen haben wollen. Volk, das bei Großbränden immer zugegen ist, soll das Lied von der Bogurodzica, der Gottesgebärerin, angestimmt haben — wir dürfen glauben, es ging bei Koljaiczeks Brandstiftungen feierlich zu: es wurden Schwüre geschworen.

So belastet und gesucht der Brandstifter Koljaiczek war, so unbescholten, elternlos, harmlos, ja beschränkt und von niemandem gesucht, kaum gekannt hatte der Flößer Joseph Wranka seinen Kautabak in Tagesrationen eingeteilt, bis ihn der Fluß Bug aufnahm und drei Tagesrationen Kautabak in seiner Joppe mit den Papieren zurückblieben. Und da der ertrunkene Wranka sich nicht mehr melden konnte und niemand nach dem ertrunkenen Wranka peinliche Fragen stellte, kroch Koljaiczek, der die ähnliche Statur und den gleichen Rundschädel wie der Ertrunkene hatte, zuerst in dessen Joppe, sodann in dessen amtlich papierene, nicht vorbestrafte Haut, gewöhnte sich die Pfeife ab, verlegte sich auf Kautabak, übernahm sogar vom Wranka das Persönlichste, dessen Sprachfehler, und gab in den folgenden Jahren einen braven, sparsamen, leicht stotternden Flößer ab, der ganze Wälder auf Njemen, Bobr, Bug und Weichsel zu Tal flößte. So muß auch gesagt werden, daß er es bei den Leibhusaren des Kronprinzen unter Mackensen zum Gefreiten Wranka brachte, denn Wranka hatte noch nicht gedient, Koljaiczek jedoch, der vier Jahre älter war als der Ertrunkene, hatte in Thorn bei der Artillerie ein schlechtes Zeugnis hinterlassen.

Der gefährlichste Teil aller Räuber, Totschläger und Brandstifter wartet, während noch geraubt, totgeschlagen und in Brand gesteckt wird, auf die Gelegenheit eines solideren Metiers. Manchen zeigt sich gesucht oder zufällig die Chance: Koljaiczek war als Wranka ein guter und vom hitzigen Laster so kurierter Ehemann, daß ihn der bloße Anblick eines Streichholzes schon zittern machte.

Streichholzschachteln, die frei und selbstgefällig auf dem Küchentisch lagen, waren vor ihm, der das Streichholz hätte erfunden haben können, nie sicher. Zum Fenster warf er die Versuchung hinaus.

Mühe hatte meine Großmutter, das Mittagessen rechtzeitig und warm auf den Tisch zu bekommen. Oft saß die Familie im Dunkeln, weil der Petroleumlampe das Flämmchen fehlte.

Dennoch war Wranka kein Tyrann. Am Sonntag führte er seine Anna Wranka zur Kirche in die Niederstadt und erlaubte ihr, die ihm standesamtlich angetraut war, wie auf dem Kartoffelacker vier Röcke übereinanderzutragen. Im Winter, wenn die Flüsse vereist waren und die Flößer magere Zeit hatten, saß er brav im Troyl, wo nur Flößer, Stauer und Werftarbeiter wohnten, und paßte auf seine Tochter Agnes auf, die von der Art des Vaters zu sein schien, denn wenn sie nicht unter das Bett kroch, dann steckte sie im Kleiderschrank, und wenn Besuch da war, saß sie unter dem Tisch und mit ihr ihre Kodderpuppen.

Es kam dem Mädchen Agnes also darauf an, versteckt zu bleiben und im Versteck ähnliche Sicherheit, wenn auch anderes Vergnügen zu finden, als Joseph unter den Röcken der Anna fand. Koljaiczek der Brandstifter war gebrannt genug, um das Schutzbedürfnis seiner Tochter verstehen zu können. Deshalb baute er ihr, als auf dem balkonähnlichen Vorbau der Eineinhalbzimmerwohnung ein Kaninchenstall gezimmert werden mußte, einen extra für ihre Maße gedachten Verschlag. In solch einem Gehäuse saß meine Mama als Kind, spielte mit Puppen und wurde größer dabei. Später, als sie schon zur Schule ging, soll sie die Puppen verworfen und mit Glaskugeln und farbigen Federn spielend, den ersten Sinn für zerbrechliche Schönheit gezeigt haben.

Man mag mir, der ich darauf brenne, den Beginn eigener Existenz anzeigen zu dürfen, erlauben, die Wrankas, deren Familienfloß ruhig dahinglitt, bis zum Jahre dreizehn, da die »Columbus« bei Schichau vom Stapel lief, unbeobachtet zu lassen; da kam nämlich die Polizei, die nichts vergißt, dem falschen Wranka auf die Spur.

Es begann damit, daß Koljaiczek, wie in jedem Spätsommer so auch im August des Jahres dreizehn, das große Floß von Kijew über den Pripet, durch den Kanal, über den Bug bis Modlin und von dort die Weichsel herunterflößen sollte. Sie fuhren, insgesamt zwölf Flößer, mit dem Schlepper »Radaune«, der im Dienste ihrer Sägerei dampfte, von Westlich Neufähr gegen die Tote Weichsel bis Einlage, dann die Weichsel herauf an Käsemark, Letzkau, Czattkau, Dirschau und Pieckel vorbei und machten am Abend in Thorn fest. Dort kam der neue Sägemeister an Bord, der den Holzeinkauf in Kijew überwachen sollte. Als die Radaune um vier Uhr früh loswarf, hieß es, er sei an Bord. Koljaiczek sah ihn erstmals beim Frühstück auf der Back. Sie saßen sich kauend und Gerstenkaffee schlürfend gegenüber. Koljaiczek erkannte ihn sofort. Der breite, oben schon kahle Mann ließ Wodka kommen und in die leeren Kaffeetassen eingießen. Mitten im Kauen, während am Ende der Back noch eingeschenkt wurde, stellte er sich vor: »Damit ihr Bescheid wißt, ich bin der neue Sägemeister, heiße Dückerhoff, bei mir herrscht Ordnung!«

Die Flißacken nannten auf Verlangen der Reihe nach, wie sie saßen, ihre Namen und kippten die Tassen, daß die Adamsäpfel ruckten. Koljaiczek kippte erst, sagte dann »Wranka« und fixierte den Dückerhoff dabei. Der nickte, wie er zuvor genickt hatte, wiederholte das Wörtchen Wranka, wie er auch die Namen der anderen Flißacken wiederholt hatte. Dennoch wollte es Koljaiczek vorkommen, als habe Dückerhoff den Namen des ertrunkenen Flößers besonders, nicht etwa scharf, eher nachdenklich betont.

Die Radaune stampfte, Sandbänken geschickt, unterm Beistand wechselnder Lotsen ausweichend, gegen die lehmtrübe, nur eine Richtung kennende Flut. Links und rechts lag hinter den Deichen immer dasselbe, wenn nicht flache, dann gehügelte, schon abgeerntete Land. Hecken, Hohlwege, eine Kesselkuhle mit Ginster, plan zwischen Einzelgehöften, geschaffen für Kavallerieattacken, für eine links im Sandkasten einschwenkende Ulanendivision, für über Hecken hetzende Husaren, für die Träume junger Rittmeister, für die Schlacht, die schon dagewesen, die immer wieder kommt, für das Gemälde: Tataren flach, Dragoner aufbäumend, Schwertritter stürzend, Hochmeister färbend den Ordensmantel, dem Küraß kein Knöpfchen fehlt, bis auf einen, den abhaut Masoviens Herzog, und Pferde, kein Zirkus hat solche Schimmel, nervös, voller Troddeln, die Sehnen peinlich genau und die Nüstern gebläht, karminrot, draus Wölkchen, durchstochen von Lanzen, bewimpelt, gesenkt und den Himmel, das Abendrot teilend, die Säbel und dort, im Hintergrund — denn jedes Gemälde hat einen Hintergrund — fest auf dem Horizont klebend, schmauchend ein Dörfchen friedlich zwischen den Hinterbeinen des Rappen, geduckte Katen, bemoost, strohgedeckt; und in den Katen, das konserviert sich, die hübschen, vom kommenden Tage träumenden Panzer, da auch sie ins Bild, hinausdürfen auf die Ebene hinter den Weichseldeichen, gleich leichten Fohlen zwischen der schweren Kavallerie.

Bei Wloclawek tippte der Dückerhoff dem Koljaiczek gegen den Rock: »Sag'n Se mal, Wranka, ham Se nich vor sounsovüll Jahre uff de Mühle in Schwetz jearbeitet? Is dann hintaher abjebrannt, die Mühle?« Koljaiczek schüttelte zäh, wie gegen einen Widerstand den Kopf, und es gelang ihm dabei, traurige und müde Augen zu bekommen, daß Dückerhoff, solchem Blick ausgesetzt, weitere Fragen bei sich hielt.

Als Koljaiczek, wie alle Flißacken es taten, bei Modlin, wo der Bug in die Weichsel mündet und die »Radaune« einbog, über die Reling gelehnt dreimal spuckte, stand Dückerhoff mit einer Zigarre neben ihm und wollte Feuer haben. Dieses Wörtchen und das Wörtchen Streichholz gingen Koljaiczek unter die Haut. »Mann, brauchen Se doch nich rot zu werden, wenn ich Feuer haben will. Sind doch kein Mädchen, oder?«

Sie hatten Modlin schon hinter sich, da erst verging dem Koljaiczek jene Röte, die keine Schamröte war, sondern ein später Abglanz von ihm in Brand gesteckter Sägemühlen.

Zwischen Modlin und Kijew, also den Bug hinauf, durch den Kanal, der Bug und Pripet verbindet, bis die »Radaune«, dem Pripet folgend, den Dnjepr fand, passierte nichts, was sich als Wechselrede zwischen Koljaiczek-Wranka und Dückerhoff wiedergeben ließe. Auf dem Schlepper, zwischen den Flößern, zwischen den Heizern und Flößern, zwischen Steuermann, Heizern und Kapitän, zwischen dem Kapitän und den ständig wechselnden Lotsen wird sich natürlich, wie es zwischen Männern üblich sein soll, vielleicht sogar ist, mancherlei ereignet haben. Ich könnte mir Händel zwischen den kaschubischen Flißacken und dem aus Stettin gebürtigen Steuermann vorstellen, vielleicht den Anflug einer Meuterei: Versammlung auf der Back, Lose werden gezogen, Parolen ausgegeben, die Poggenkniefe geschliffen.

Lassen wir das. Weder kam es zu politischen Händeln, deutschpolnischen Messerstechereien, noch zur Milieuattraktion einer handfesten, aus sozialen Mißständen geborenen Meuterei. Brav Kohlen fressend machte die »Radaune« ihren Weg, lief einmal —es war, glaub ich, kurz hinter Plock — auf eine Sandbank, konnte aber mit eigener Kraft wieder freikommen. Ein kurzer, bissiger Wortwechsel zwischen dem Kapitän Barbusch aus Neufahrwasser und dem ukrainischen Lotsen, das war alles — und das Bordbuch wüßte kaum mehr zu berichten.

Müßte und wollte ich ein Bordbuch für Koljaiczeks Gedanken oder gar ein Journal des Dückerhoffschen, sägemeisterlichen Innenlebens führen, gäbe es Wechsel und Abenteuer genug, Verdacht und Bestätigung, Mißtrauen und fast gleichzeitiges, eiliges Beschwichtigen des Mißtrauens zu beschreiben. Angst hatten alle beide. Dückerhoff mehr als Koljaiczek; denn man befand sich in Rußland. Dückerhoff hätte, wie einst der arme Wranka, über Bod fallen können, hätte — und jetzt sind wir schon in Kijew — auf den Holzplätzen, die so groß und unübersichtlich sind, daß man seinen Schutzengel in solch hölzernem Irrgarten verlieren kann, unter einen Stoß sich plötzlich lösende, durch nichts mehr aufzuhaltende Langhölzer geraten — oder auch gerettet werden können. Gerettet von einem Koljaiczek, der den Sägemeister zuerst aus dem Pripet oder Bug gefischt, der den Dückerhoff im letzten Augenblick auf dem schutzengelarmen Holzplatz in Kijew zurückgerissen und dem Verlauf der Langholzlawine entzogen hätte. Wie schön wäre es, jetzt berichten zu können, wie der halbertrunkene oder fast zermalmte Dückerhoff noch schwer atmend und eine Spur Tod im Auge bewahrend, dem angeblichen Wranka ins Ohr geflüstert hätte: »Dank Koljaiczek, Dank!« dann, nach der notwendigen Pause: »Jetzt sind wir quitt — Schwamm drüber!«

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