Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (9 page)

Da hatte ich also — und die Ärzte haben es immer wieder bestätigt — mit einem einzigen, zwar nicht harmlosen, aber doch von mir wohldosierten Sturz nicht nur den für die Erwachsenen so wichtigen Grund des ausbleibenden Wachstums geliefert, sondern als Zugabe und ohne es eigentlich zu wollen, den guten harmlosen Matzerath zu einem schuldigen Matzerath gemacht. Er hatte die Falltür offen gelassen, ihm wurde von Mama alle Schuld aufgebürdet, und er hatte Gelegenheit, Jahre an dieser Schuld, die ihm Mama zwar nicht oft, aber dann unerbittlich vorwarf, zu tragen.

Mir brachte der Sturz vier Wochen Krankenhausaufenthalt ein und danach, bis auf die späteren Mittwochbesuche bei Dr. Hollatz, verhältnismäßige Ruhe vor den Ärzten; schon anläßlich meines ersten Trommlertages war es mir gelungen, der Welt ein Zeichen zu geben, mein Fall war geklärt, bevor die Erwachsenen ihn dem wahren, von mir bestimmten Sachverhalt nach begriffen hatten.

Fortan hieß es: an seinem dritten Geburtstag stürzte unser kleiner Oskar die Kellertreppe hinunter, blieb zwar sonst beieinander, nur wachsen wollte er nicht mehr.

Und ich begann zu trommeln. Unser Mietshaus zählte vier Etagen. Vom Parterre bis zu den Bodenverschlägen trommelte ich mich hoch und wieder treppab. Vom Labesweg zum Max-Halbe-Platz, von dort nach Neuschottland, Anton-Möller-Weg, Marienstraße, Kleinhammerpark, Aktienbierbrauerei, Aktienteich, Fröbelwiese, Pestalozzischule, Neuer Markt und wieder hinein in den Labesweg. Meine Trommel hielt das aus, die Erwachsenen weniger, wollten meiner Trommel ins Wort fallen, wollten meinem Blech im Wege sein, wollten meinen Trommelstöcken ein Bein stellen — aber die Natur sorgte für mich.Die Fähigkeit, mittels einer Kinderblechtrommel zwischen mir und den Erwachsenen eine notwendige Distanz ertrommeln zu können, zeitigte sich kurz nach dem Sturz von der Kellertreppe fast gleichzeitig mit dem Lautwerden einer Stimme, die es mir ermöglichte, in derart hoher Lage anhaltend und vibrierend zu singen, zu schreien oder schreiend zu singen, daß niemand es wagte, mir meine Trommel, die ihm die Ohren welk werden ließ, wegzunehmen; denn wenn mir die Trommel genommen wurde, schrie ich, und wenn ich schrie, zersprang Kostbarstes: ich war in der Lage, Glas zu zersingen; mein Schrei tötete Blumenvasen; mein Gesang ließ Fensterscheiben ins Knie brechen und Zugluft regieren; meine Stimme schnitt gleich einem keuschen und deshalb unerbittlichen Diamanten Vitrinen auf und verging sich im Inneren der Vitrinen, ohne dabei die Unschuld zu verlieren, an harmonischen, edel gewachsenen, von lieber Hand geschenkten, leicht verstaubten Likörgläsern.

Es dauerte nicht lange, und meine Fähigkeiten wurden in unserer Straße, vom Brösener Weg bis zur Siedlung am Flugplatz, also im ganzen Quartier bekannt. Sahen mich die Kinder der Nachbarschaft, deren Spiele wie »Saurer Hering, eins, zwei drei« oder »Ist die Schwarze Köchin da« oder »Ich sehe was, was du nicht siehst« —meine Anteilnahme nicht fanden, plärrte auch schon ein ganzer ungewaschener Chor:

Glas, Glas, Gläschen, Zucker ohne Bier, Frau Holle macht das Fenster auf und spielt Klavier.

Gewiß, ein dummer und nichtssagender Kindervers. Mich störte das Liedchen kaum, wenn ich hinter meiner Trommel mitten hindurch, durch Gläschen und Frau Holle stampfte, dabei den einfältigen Rhythmus, der ja nicht ohne Reiz ist, aufnahm und Glas, Glas, Gläschen trommelnd, ohne ein Rattenfänger zu sein, die Kinder nachzog.

Auch heute noch, etwa wenn Bruno die Scheiben meines Zimmerfensters putzt, räume ich diesem Vers und Rhythmus auf meiner Trommel ein Plätzchen ein.

Störender als das Spottlied der Nachbarskinder und ärgerlicher, besonders für meine Eltern, war die kostspielige Tatsache, daß mir oder vielmehr meiner Stimme jede in unserem Viertel von mutwilligen, unerzogenen Rowdys zerworfene Fensterscheibe zur Last gelegt wurde. Anfangs bezahlte Mama auch treu und brav die zumeist mit Katapultschleudern zertrümmerten Küchenfensterscheiben, dann endlich begriff auch sie mein Stimmphänomen, forderte bei Schadenansprüchen Beweise und machte dabei sachlich kühlgraue Augen. Die Leute der Nachbarschaft taten mir wirklich Unrecht. Nichts war zu dem Zeitpunkt verfehlter, als anzunehmen, es besäße mich kindliche Zerstörungswut, ich fände das Glas oder Glasprodukte auf jene unerklärliche Art hassenswert, wie eben Kinder manchmal ihre dunklen und planlosen Abneigungen in wütigen Amokläufen demonstrieren. Nur wer spielt, zerstört mutwillig. Ich spielte nie, ich arbeitete auf meiner Trommel, und was meine Stimme anging, gehorchte diese vorerst nur der Notwehr. Allein Sorge um den Fortbestand meiner Arbeit auf der Trommel hieß mich, meine Stimmbänder so zielstrebig zu gebrauchen. Wenn es mir möglich gewesen wäre, mit den gleichen Tönen und Mitteln etwa langweilige, kreuz und quer bestickte, Gretchen Schefflers Musterphantasie entsprungene Tischtücher zu zerschneiden oder die düstere Politur vom Klavier zu lösen, hätte ich alles Gläserne mit Freude heil und klangvoll belassen. Doch meiner Stimme blieben Tischdecken und Polituren gleichgültig. Weder gelang es mir, mit unermüdlichem Schrei das Tapetenmuster zu löschen, noch mit zwei langgezogenen, auf und ab schwellenden, sich steinzeitlich mühsam aneinander reibenden Tönen Wärme bis Hitze zu erzeugen, endlich den Funken springen zu lassen, der nötig gewesen wäre, die zundertrockenen, tabakrauchgewürzten Gardinen vor den beiden Fenstern des Wohnzimmers zu dekorativen Flammen werden zu lassen. Keinem Stuhl, auf dem etwa Matzerath oder Alexander Scheffler saßen, sang ich das Bein ab. Gerne hätte ich mich harmloser und weniger wunderbar gewehrt, aber nichts Harmloses wollte mir dienen, einzig das Glas hörte auf mich und mußte dafür bezahlen.

Die erste erfolgreiche Darbietung dieser Art bot ich kurz nach meinem dritten Geburtstag. Ich besaß die Trommel damals vielleicht reichliche vier Wochen und hatte sie während dieser Zeit, fleißig wie ich war, kaputtgeschlagen. Zwar hielt die weißrot geflammte Einfassung noch Trommelboden und Trommelfläche zusammen, aber das Loch in der Mitte der tonangebenden Seite ließ sich nicht mehr übersehen, wurde, da ich den Trommelboden verschmähte, auch immer größer, franste aus, bekam zackige, scharfe Ränder, dünngetrommelte Blechteilchen splitterten ab, fielen ins Innere der Trommel, klapperten mißgelaunt bei jedem Schlag mit, und überall auf dem Teppich des Wohnzimmers und auf den rotbraunen Dielen des Schlafzimmers schimmerten weiße Lackpartikel, die es auf meinem gemarterten Trommelblech nicht mehr hatten aushallen wollen.

Man befürchtete, ich würde mich an den gefährlich scharfen Blechkanten reißen. Besonders Matzerath, der nach meinem Sturz von der Kellertreppe Vorsicht mit Vorsicht überbot, riet mir Vorsicht beim Trommeln an. Da ich mit den Pulsadern tatsächlich immer und in heftigster Bewegung dem gezackten Kraterrand nahe war, muß ich zugeben, daß Matzeraths Befürchtungen zwar übertrieben, doch nicht ganz grundlos waren. Nun hätte man mit einer neuen Trommel alle Gefahr aus dem Wege räumen können; sie aber dachten gar nicht an eine neue Trommel, wollten mir mein gutes altes Blech, das mit mir stürzte, ins Krankenhaus kam und mit mir gleichzeitig entlassen wurde, das mit mir treppauf treppab, das mit mir auf Kopfsteinpflaster und Bürgersteigen, durch »Saurer Hering, eins, zwei, drei« hindurch und an »Ich sehe was, was nu nicht siehst«, an der »Schwarzen Köchin« vorbei, dieses Blech wollten sie mir wegnehmen und keinen Ersatz heranschaffen. Dumme Schokolade sollte mich ködern. Mama hielt sie und machte einen spitzen Mund dabei. Matzerath war es, der mit gemachter Strenge nach meinem invaliden Instrument griff. Ich klammerte mich an das Wrack. Er zog. Schon ließen meine gerade fürs Trommeln bemessenen Kräfte nach. Langsam entglitt mir eine rote Flamme nach der anderen, schon wollte mir das Rund der Einfassung entschlüpfen, da gelang Oskar, der bis zu jenem Tage als ein ruhiges, fast zu braves Kind gegolten hatte, jener erste zerstörerische und wirksame Schrei: die runde geschliffene Scheibe, die das honiggelbe Zifferblatt unserer Standuhr vor Staub und sterbenden Fliegen schützte, zersprang, fiel, teilweise nochmals zerscherbend, auf die braunroten Dielen — denn der Teppich reichte nicht ganz bis zur Standfläche der Uhr hin. Das Innere des kostbaren Werkes nahm jedoch keinen Schaden: ruhig setzte das Pendel — wenn man so von einem Pendel sagen kann — seinen Weg fort, desgleichen die Zeiger. Nicht einmal das Läutwerk, das sonst empfindlich, ja fast hysterisch auf den geringsten Stoß, auf draußen vorbeirollende Bierwagen reagierte, zeigte sich durch meinen Schrei beeindruckt; allein die Scheibe sprang, jedoch zersprang sie gründlich.

»Die Uhr ist kaputt!« rief Matzerath und ließ die Trommel los. Mit knappem Blick überzeugte ich mich, daß mein Schrei der eigentlichen Uhr keinen Schaden angetan hatte, daß nur das Glas hinüber war. Für Matzerath jedoch, auch für Mama und Onkel Jan Bronski, der an jenem Sonntagnachmittag seine Visite machte, schien mehr als das Glas vorm Zifferblatt kaputt zu sein. Bleich und mit hilflos verrutschenden Blicken äugten sie einander an, tasteten nach dem Kachelofen, hielten sich am Klavier und Büfett, wagten sich nicht vom Fleck, und Jan Bronski bewegte trockene Lippen unter flehentlich verdrehtem Auge, daß ich noch heute glaube, des Onkels Bemühungen galten dem Wortlaut eines Hilfe und Erbarmen fordernden Gebetes, wie etwa: Oh, du Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt — Miserere nobis. Und diesen Text dreimal und hernach noch ein: O Herr, ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter mein Dach; aber sprich nur ein Wort.,.

Natürlich sprach der Herr kein Wort. Es war ja auch nicht die Uhr kaputt, nur das Glas. Es ist aber das Verhältnis der Erwachsenen zu ihren Uhren höchst sonderbar und kindisch in jenem Sinne, in welchem ich nie ein Kind gewesen bin. Dabei ist die Uhr vielleicht die großartigste Leistung der Erwachsenen. Aber wie es nun einmal ist: im selben Maß, wie die Erwachsenen Schöpfer sein können und bei Fleiß, Ehrgeiz und einigem Glück auch sind, werden sie gleich nach der Schöpfung Geschöpfe ihrer eigenen epochemachenden Erfindungen.

Dabei ist die Uhr nach wie vor nichts ohne den Erwachsenen. Er zieht sie auf, er stellt sie vor oder zurück, er bringt sie zum Uhrmacher, damit der sie kontrolliere, reinige und notfalls repariere. Ähnlich wie beim Kuckucksruf, der zu früh ermüdet, beim umgestürzten Salzfäßchen, beim Spinnen am Morgen, schwarzen Katzen von links, beim Ölbild des Onkels, das von der Wand fällt, weil sich der Haken im Putz lockerte, ähnlich wie beim Spiegel sehen die Erwachsenen hinter und in der Uhr mehr, als eine Uhr darzustellen vermag.

Mama, die trotz einiger schwärmerisch phantastischer Züge den nüchternsten Blick hatte, auch leichtsinnig, wie sie sein konnte, jedes vermeintliche Zeichen stets zu ihrem Besten wertete, fand damals das erlösende Wort.

»Scherben bringen Glück! «rief sie fingerschnalzend, holte Kehrblech und Handfeger und kehrte die Scherben oder das Glück zusammen.

Ich habe, wenn ich mich auf Mamas Worte berufen will, meinen Eltern, den Verwandten, bekannten und auch unbekannten Leuten viel Glück gebracht, indem ich jedem, der mir meine Trommel wegnehmen wollte, Fensterscheiben, volle Biergläser, leere Bierflaschen, den Frühling freigebende Parfümflakons, Kristallschalen mit Zierobst, kurz, alles was gläsern aus Glashütten dank Glasbläsers Atem hervorgebracht wurde, teils nur mit Glases Wert, teils als künstlerische Gläschen auf den Markt kam, zerschrie, zersang, zerscherbte.

Um nicht allzuviel Schaden anzurichten, denn ich liebte und liebe heute noch schöngeformte Glasprodukte, zermürbte ich, wenn man mir abends meine Blechtrommel nehmen wollte, die ja zu mir ins Bettchen gehörte, eine oder mehrere Glühbirnen unserer viermal sich Mühe gebenden Wohnzimmerhängelampe. So versetzte ich an meinem vierten Geburtstag, Anfang September achtundzwanzig, die versammelte Geburtstagsgesellschaft, die Eltern, die Bronskis, die Großmutter Koljaiczek, Schefflers und Greffs, die mir alles mögliche geschenkt hatten, Bleisoldaten, ein Segelschiff, ein Feuerwehrauto — nur keine Blechtrommel; sie alle, die da haben wollten, daß ich mich mit Bleisoldaten abgäbe, daß ich den Irrsinn einer Feuerwehr spielenswert fände, die mir meine zerschlagene, aber brave Trommel nicht gönnten, die mir das Blech nehmen und dafür das alberne, obendrein unsachgemäß mit Segeln besetzte Schiffchen in die Hände drücken wollten, alle die da Augen hatten, um mich und meine Wünsche zu übersehen, versetzte ich mit einem rundlaufenden, alle vier Glühbirnen unserer Hängelampe tötenden Schrei in vorweltliche Finsternis.

Wie nun Erwachsene einmal sind: nach den ersten Schreckensrufen, fast inbrünstigem Verlangen nach Wiederkehr des Lichtes, gewöhnten sie sich an die Dunkelheit, und als meine Großmutter Koljaiczek, die als einzige außer dem kleinen Stephan Bronski der Finsternis nichts abgewinnen konnte, mit dem plärrenden Stephan am Rock Talgkerzen aus dem Laden holte und mit brennenden Kerzen, das Zimmer aufhellend, zurückkam, zeigte sich die restliche, stark angetrunkene Geburtstagsgesellschaft in merkwürdiger Paarung.Wie zu erwarten war, hockte Mama mit verrutschter Bluse auf Jan Bronskis Schoß. Unappetitlich war es, den kurzbeinigen Bäckermeister Alexander Scheffler fast in der Greffschen verschwinden zu sehen, Matzerath leckte an Gretchen Schefflers Gold-und Pferdezähnen.

Nur Hedwig Bronski saß mit im Kerzenlicht frommen Kuhaugen, die Hände im Schoß haltend, nahe aber nicht zu nahe dem Gemüsehändler Greff, der nichts getrunken hatte und dennoch sang, süß sang, melancholisch, Wehmut mitschleppend sang, Hedwig Bronski zum Mitsingen auffordernd sang. Ein zweistimmig Pfadfinderlied sangen sie, nach dessen Text ein gewisser Rübezahl durchs Riesengebirge zu geistern hatte.

Mich hatte man vergessen. Unter dem Tisch saß Oskar mit dem Fragment seiner Trommel, holte noch etwas Rhythmus aus dem Blech heraus, und es mochte sich ergeben haben, daß die sparsamen, aber gleichmäßigen Trommelgeräusche jenen, die da vertauscht und verzückt im Zimmer lagen oder saßen, nur angenehm sein konnten. Denn wie Firnis verdeckte die Trommelei Schmatz-und Saugtöne, die jenen bei all den fieberhaften und angestrengten Beweisen ihres Fleißes unterliefen.

Ich blieb auch unter dem Tisch, als meine Großmutter kam, mit den Kerzen einem zornigen Erzengel glich, im Kerzenschein Sodom besichtigte, Gomorrha erkannte, mit zitternden Kerzen Krach schlug, das alles eine Sauerei nannte und die Idylle wie Rübezahls Spaziergänge durch das Riesengebirge beendete, indem sie die Kerzen auf Untertassen stellte, Skatkarten vom Büfett langte, auf den Tisch warf und, den immer noch greinenden Stephan tröstend, den zweiten Teil der Geburtstagsfeier ankündigte. Bald darauf schraubte Matzerath neue Glühbirnen in die alten Fassungen unserer Hängelampe, Stühle wurden gerückt, Bierflaschen schnalzten aufspringend; man begann über mir einen Zehntelpfennigskat zu kloppen. Mama schlug gleich zu Anfang einen Viertelpfennigskat vor, aber das war dem Onkel Jan zu riskant, und wenn nicht Bockrunden und ein gelegentlicher Grand mit Viern den Einsatz dann und wann beträchtlich erhöht hätten, wäre es bei der Zehntelpfennigfuchserei geblieben.

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