Die Blechtrommel (18 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Oskar jedoch, der immer schon einen Zug zur Gründlichkeit hatte, ließ es mit dem Anblick des nackten, in seiner Häßlichkeit tatsächlichen Gerüstes nicht genug sein, er erinnerte sich der Worte seines Magisters Bebra, ging das nur für die Vorderansicht bestimmte Podest von der groben Kehrseite an, schob sich und seine Trommel, ohne die er nie ausging, zwischen Verstrebungen hindurch, stieß sich an einer überstehenden Dachlatte, riß sich an einem bös aus dem Holz ragenden Nagel das Knie auf, hörte über sich die Stiefel der Parteigenossen scharren, dann die Schühchen der Frauenschaft und kam endlich dorthin, wo es am drückendsten und dem Monat August am meisten gemäß war: vor dem inwendigen Tribünenfuß fand er hinter einem Stück Sperrholz Platz und Schutz genug, um den akustischen Reiz einer politischen Kundgebung in aller Ruhe auskosten zu können, ohne durch Fahnen abgelenkt, durch Uniformen im Auge beleidigt zu werden.

Unter dem Rednerpult hockte ich. Links und rechts von mir und über mir standen breitbeinig und, wie ich wußte, mit verkniffenen, vom Sonnenlicht geblendeten Augen die jüngeren Trommler des Jungvolkes und die älteren der Hitlerjugend. Und dann die Menge. Ich roch sie durch die Ritzen der Tribünenverschalung. Das stand und berührte sich mit Ellenbogen und Sonntagskleidung, das war zu Fuß gekommen oder mit der Straßenbahn, das hatte zum Teil die Frühmesse besucht und war dort nicht zufriedengestellt worden, das war gekommen, um seiner Braut am Arm etwas zu bieten, das wollte mit dabeisein, wenn Geschichte gemacht wird, und wenn auch der Vormittag dabei draufging.

Nein, sprach sich Oskar zu, sie sollen den Weg nicht umsonst gemacht haben. Und er legte ein Auge an ein Astloch der Verschalung, bemerkte die Unruhe von der Hindenburgallee her. Sie kamen!

Kommandos wurden über ihm laut, der Führer des Spielmannszuges fuchtelte mit seinem Tambourstab, die hauchten ihre Fanfaren an, die paßten sich das Mundstück auf, und schon stießen sie in übelster Landsknechtmanier in ihr sidolgeputztes Blech, daß es Oskar weh tat und »Armer SA-Mann Brand«, sagte er sich, »armer Hitlerjunge Quex, ihr seid umsonst gefallen!«

Als wollte man ihm diesen Nachruf auf die Opfer der Bewegung bestätigen, mischte sich gleich darauf massives Gebumse auf kalbsfellbespannten Trommeln in die Trompeterei. Jene Gasse, die mitten durch die Menge zur Tribüne führte, ließ von weit her heranrückende Umformen ahnen, und Oskar stieß hervor: »Jetzt mein Volk, paß auf, mein Volk!«

Die Trommel lag mir schon maßgerecht. Himmlisch locker ließ ich die Knüppel in meinen Händen spielen und legte mit Zärtlichkeit in den Handgelenken einen kunstreichen, heiteren Walzertakt auf mein Blech, den ich immer eindringlicher, Wien und die Donau beschwörend, laut werden ließ, bis oben die erste und zweite Landsknechttrommel an meinem Walzer Gefallen fand, auch Flachtrommeln der älteren Burschen mehr oder weniger geschickt mein Vorspiel aufnahmen. Dazwischen gab es zwar Unerbittliche, die kein Gehör hatten, die weiterhin Bumbum machten, und Bumbumbum, während ich doch den Dreivierteltakt meinte, der so beliebt ist beim Volk. Schon wollte Oskar verzweifeln, da ging den Fanfaren ein Licht auf, und die Querpfeifen, oh Donau, pfiffen so blau. Nur der Fanfarenzugführer und auch der Spielmannszugführer, die glaubten nicht an den Walzerkönig und schrien ihre lästigen Kommandos, aber ich hatte die abgesetzt, das war jetzt meine Musik. Und das Volk dankte es mir.

Lacher wurden laut vor der Tribüne, da sangen schon welche mit, oh Donau, und über den ganzen Platz, so blau, bis zur Hindenburgallee, so blau und zum Steffenspark, so blau, hüpfte mein Rhythmus, verstärkt durch das über mir vollaufgedrehte Mikrophon. Und als ich durch mein Astloch hindurch ins Freie spähte, doch dabei fleißig weitertrommelte, bemerkte ich, daß das Volk an meinem Walzer Spaß fand, aufgeregt hüpfte, es in den Beinen hatte: schon neun Pärchen und noch ein Pärchen tanzten, wurden vom Walzerkönig gekuppelt. Nur dem Löbsack, der mit Kreisleitern und Sturmbannführern, mit Forster, Greiser und Rauschning, mit einem langen braunen Führungsstabschwanz mitten in der Menge kochte, vor dem sich die Gasse zur Tribüne schließen wollte, lag erstaunlicherweise der Walzertakt nicht. Der war gewohnt, mit gradliniger Marschmusik zur Tribünegeschleust zu werden.

Dem nahmen nun diese leichtlebigen Klänge den Glauben ans Volk. Durchs Astloch sah ich seine Leiden. Es zog durch das Loch. Wenn ich mir auch fast das Auge entzündete, tat er mir dennoch leid, und ich wechselte in einen Charleston, »Jimmy the Tiger«, über, brachte jenen Rhythmus, den der Clown Bebra im Zirkus auf leeren Selterwasserflaschen getrommelt hatte; doch die Jungs vor der Tribüne kapierten den Charleston nicht. Das war eben eine andere Generation. Die hatten natürlich keine Ahnung von Charleston und »Jimmy the Tiger«. Die schlugen — oh guter Freund Bebra — nicht Jimmy und Tiger, die hämmerten Kraut und Rüben, die bliesen mit Fanfaren Sodom und Gomorrha. Da dachten die Querpfeifen sich, gehupft wie gesprungen. Da schimpfte der Fanfarenzugführer auf Krethi und Plethi. Aber dennoch trommelten, pfiffen, trompeteten die Jungs vom Fanfarenzug und Spielmannszug auf Teufel komm raus, daß es Jimmy eine Wonne war, mitten im heißesten Tigeraugust, daß es die Volksgenossen, die da zu Tausenden und Abertausenden vor der Tribüne drängelten, endlich begriffen: es ist Jimmy the Tiger, der das Volk zum Charleston aufruft!

Und wer auf der Maiwiese noch nicht tanzte, der griff sich, bevor es zu spät war, die letzten noch zu habenden Damen. Nur Löbsack mußte mit seinem Buckel tanzen, weil in seiner Nähe alles, was einen Rock trug, schon besetzt war, und jene Damen von der Frauenschaft, die ihm hätten helfen können, rutschten, weit weg vom einsamen Löbsack, auf den harten Holzbänken der Tribüne. Er aber — und das riet ihm sein Buckel — tanzte dennoch, wollte gute Miene zur bösen Jimmymusik machen und retten, was noch zu retten war.

Es war aber nichts mehr zu retten. Das Volk tanzte sich von der Maiwiese, bis die zwar arg zertreten, aber immerhin grün und leer war. Es verlor sich das Volk mit »Jimmy the Tiger« in den weiten Anlagen des angrenzenden Steffensparkes. Dort bot sich Dschungel, den Jimmy versprochen hatte, Tiger gingen auf Sammetpfötchen, ersatzweise Urwald fürs Volk, das eben noch auf der Wiese drängte. Gesetz ging flöten und Ordnungssinn. Wer aber mehr die Kultur liebte, konnte auf den breiten gepflegten Promenaden jener Hindenburgallee, die während des achtzehnten Jahrhunderts erstmals angepflanzt, bei der Belagerung durch Napoleons Truppen achtzehnhundertsieben abgeholzt und achtzehnhundertzehn zu Ehren Napoleons wieder angepflanzt wurde, auf historischem Boden also konnten die Tänzer auf der Hindenburgallee meine Musik haben, weil über mir das Mikrophon nicht abgestellt wurde, weil man mich bis zum Olivaer Tor hörte, weil ich nicht locker ließ, bis es mir und den braven Burschen am Tribünenfuß gelang, mit Jimmys entfesseltem Tiger die Maiwiese bis auf die Gänseblümchen zu räumen. Selbst als ich meinem Blech schon die langverdiente Ruhe gönnte, wollten die Trommelbuben noch immer kein Ende finden. Es brauchte seine Zeit, bis mein musikalischer Einfluß nachzuwirken aufhörte.

Dann bleibt noch zu sagen, daß Oskar das Innere der Tribüne nicht sogleich verlassen konnte, da Abordnungen der SA und SS über eine Stunde lang mit Stiefeln gegen Bretter knallten, sich Ecklöcher ins braune und schwarze Zeug rissen, etwas im Tribünengehäuse zu suchen schienen: einen Sozi womöglich oder einen Störtrupp der Kommune. Ohne die Finten und Täuschungsmanöver Oskars aufzählen zu wollen, sei hier kurz festgestellt: sie fanden Oskar nicht, weil sie Oskar nicht gewachsen waren.

Endlich war Ruhe im Holzlabyrinth, das etwa die Größe jenes Walfisches hatte, in welchem Jonas saß und tranig wurde. Nein nein, Oskar war kein Prophet, Hunger verspürte er! Es war da kein Herr, der sagte: »Mache dich auf und gehe in die große Stadt Ninive und predige wider sie!« Mir brauchte auch kein Herr einen Rizinusbaum wachsen lassen, den hinterher, auf des Herren Geheiß, ein Wurm zu tilgen hatte. Ich jammerte weder um jenen biblischen Rizinus noch um Ninive, selbst wenn es Danzig hieß. Meine Trommel, die nicht biblisch war, steckte ich unter den Pullover, hatte genug mit mir zu tun, fand, ohne mich zu stoßen oder an Nägeln zu reißen, aus den Eingeweiden einer Tribüne für Kundgebungen aller Art, die nur zufällig die Proportionen des prophetenschlingenden Walfisches hatte.

Wer achtete schon auf den kleinen Jungen, der da pfeifend und dreijährig langsam am Rand der Maiwiese in Richtung Sporthalle stiefelte? Hinter den Tennisplätzen hüpften meine Burschen vom Tribünenfuß mit vorgehaltenen Landsknechttrommeln, Flachtrommeln, Querpfeifen und Fanfaren.

Strafexerzieren, stellte ich fest und bedauerte die nach der Pfeife ihres Gebietsführers Hüpfenden nur mäßig. Abseits von seinem gehäuften Führungsstab ging Löbsack mit einsamem Buckel auf und ab.

An den Wendemarken seiner zielbewußten Laufbahn war es ihm, der auf den Stiefelabsätzen kehrtmachte, gelungen, alles Gras und die Gänseblümchen auszumerzen.

Als Oskar nach Hause kam, stand das Mittagessen schon auf dem Tisch: Falschen Hasen gab es mit Salzkartoffeln, Rotkohl und zum Nachtisch Schokoladenpudding mit Vanillesoße. Matzerath ließ kein Wörtchen hören. Oskars Mama war während des Essens mit den Gedanken woanders. Dafür gab es am Nachmittag einen Familienkrach wegen Eifersucht und polnischer Post. Gegen Abend bot ein erfrischendes Gewitter mit Wolkenbruch und wunderschön trommelndem Hagel eine längere Vorstellung. Oskars erschöpftes Blech durfte ruhen und zuhören.

SCHAUFENSTER

Längere Zeit lang, genau gesagt, bis zum November achtunddreißig habe ich mit meiner Trommel unter Tribünen hockend, mehr oder weniger Erfolg beobachtend, Kundgebungen gesprengt, Redner zum Stottern gebracht, Marschmusik, auch Chorale in Walzer und Foxtrott umgebogen.

Heute, als Privatpatient einer Heil-und Pflegeanstalt, da das alles schon historisch geworden ist, zwar immer noch eifrig, aber als kaltes Eisen geschmiedet wird, habe ich den rechten Abstand zu meiner Trommelei unter Tribünen. Nichts liegt ferner, als in mir, wegen der sechs oder sieben zum Platzen gebrachten Kundgebungen, drei oder vier aus dem Schritt getrommelten Aufmärsche und Vorbeimärsche, nun einen Widerstandskämpfer zu sehen. Das Wort ist reichlich in Mode gekommen.

Vom Geist des Widerstandes spricht man, von Widerstandskreisen. Man soll den Widerstand sogar verinnerlichen können, das nennt man dann: Innere Emigration. Ganz zu schweigen von jenen bibelfesten Ehrenmännern, die während des Krieges wegen nachlässiger Verdunklung der Schlafzimmerfenster vom Luftschutzwart eine Geldstrafe aufgebrummt bekamen und sich jetzt Widerstandskämpfer nennen, Männer des Widerstandes.

Wir wollen noch einmal einen Blick unter Oskars Tribünen werfen. Hat Oskar denen was vorgetrommelt? Hat er, dem Rat seines Lehrers Bebra folgend, die Handlung an,sich gerissen und das Volk vor der Tribüne zum Tanzen gebracht? Hat er dem so schlagfertigen und mit allen Wassern gewaschenen Gauschulungsleiter Löbsack das Konzert vermasselt? Hat er an einem Eintopfsonntag im August des Jahres fünfunddreißig zum erstenmal und später noch einige Male bräunliche Kundgebungen auf einer zwar weißroten, dennoch nicht polnischen Blechtrommel wirbelnd aufgelöst?

Das habe ich alles getan, werden Sie zugeben müssen. Bin ich, der Insasse einer Heil-und Pflegeanstalt, deshalb ein Widerstandskämpfer? Ich muß diese Frage verneinen und bitte auch Sie, die Sie nicht Insassen von Heil-und Pflegeanstalten sind, in mir nichts anderes als einen etwas eigenbrötlerischen Menschen zu sehen, der aus privaten, dazu ästhetischen Gründen, auch seines Lehrers Bebra Ermahnungen beherzigend, Farbe und Schnitt der Uniformen, Takt und Lautstärke der auf Tribünen üblichen Musik ablehnte und deshalb auf einem bloßen Kinderspielzeug einigen Protest zusammentrommelte.

Damals konnte man noch den Leuten auf und vor Tribünen mit einer armseligen Blechtrommel beikommen, und ich muß zugeben, daß ich meinen Bühnentrick ähnlich wie das fernwirkende Glaszersingen bis zur Perfektion trieb. Ich trommelte nicht nur gegen braune Versammlungen. Oskar saß den Roten und den Schwarzen, den Pfadfindern und Spinathemden von der PX, den Zeugen Jehovas und dem Kyffhäuserbund, den Vegetariern und den Jungpolen von der Ozonbewegung unter der Tribüne. Was sie auch zu singen, zu blasen, zu beten und zu verkünden hatten: meine Trommel wußte es besser. Mein Werk war also ein zerstörerisches. Und was ich mit der Trommel nicht klein bekam, das tötete ich mit meiner Stimme. So begann ich neben den taghellen Unternehmungen gegen die Tribünensymmetrie mit nächtlicher Tätigkeit: während des Winters sechsunddreißig-siebenunddreißig spielte ich den Versucher. Die ersten Unterweisungen im Versuchen der Mitmenschen bekam ich von meiner Großmutter Koljaiczek, die in jenem strengen Winter auf dem Langfuhrer Wochenmarkt einen Stand eröffnete, das heißt: sie hockte sich in ihren vier Röcken hinter eine Marktbank und bot mit klagender Stimme »Fresche Eierchen, Butter joldjelb und Ganschen, nich zu fett, nich zu mager!« für die Festtage an. Jeder Dienstag war Markttag. Mit der Kleinbahn kam sie von Viereck, zog sich kurz vor Langfuhr ihre Filzpantoffeln für die Eisenbahnfahrt aus, stieg in unförmige Galoschen, henkelte sich in ihre beiden Körbe und suchte den Stand in der Bahnhofstraße auf, dem ein Schildchen anhing: Anna Koljaiczek, Bissau. Wie billig die Eier damals waren! Eine Mandel bekam man für einen Gulden, und kaschubische Butter war billiger als Margarine. Meine Großmutter hockte zwischen zwei Fischfrauen, die »Flunderchen« riefen und »Pomuchel jefälligst!« Der Frost machte die Butter zum Stein, hielt die Eier frisch, schliff die Fischschuppen zu extradünnen Rasierklingen und gab einem Mann Arbeit und Lohn, der Schwerdtfeger hieß, einäugig war, über offenem Holzkohlenfeuer Ziegelsteine erhitzte, die er, in Zeitungspapier verpackt, an die Marktfrauen auslieh.

Meine Großmutter ließ sich vom Schwerdtfeger pünktlich jede Stunde einen heißen Ziegel unter die vier Röcke schieben. Das machte der Schwerdtfeger mit einem eisernen Schieber. Ein dampfendes Päckchen schob er unter die kaum gehobenen Stoffe, eine abladende Bewegung, ein aufladender Schub, und mit dem fast erkalteten Ziegel kam Schwerdtfegers Eisenschieber unter den Röcken meiner Großmutter hervor.

Wie habe ich diese im Zeitungspapier Hitze speichernden und spendenden Ziegelsteine beneidet!

Noch heute wünsche ich mir, als solch backwarmer Ziegelstein unter den Röcken meiner Großmutter, immer wieder gegen mich selbst ausgetauscht, liegen zu dürfen. Sie werden fragen: Was sucht Oskar unter den Röcken seiner Großmutter? Will er seinen Großvater Koljaiczek nachahmen und sich an der ahm Frau vergehen? Sucht er Vergessen, Heimat, das endliche Nirwana?

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