Die Blechtrommel (56 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Ohne etwas von der Organisation und den Plänen der Stäuber zu wissen, wollte Oskar, der sich damals recht verlassen und erbärmlich vorkam, im Kreis der Halbwüchsigen ein Gefühl von Geborgenheit beschleichen. Schon machte ich mich insgeheim mit den Burschen gemein, schlug den Einwand des zu großen Altersunterschiedes — ich sollte zwanzig werden — in den Wind und hielt mir Vor: warum sollst du den Burschen nicht eine Probe deiner Kunst zeigen? Jungens sind immer wißbegierig. Du warst auch einmal fünfzehn und sechzehn Jahre alt. Gib ihnen ein Beispiel, mach ihnen etwas vor. Sie werden dich bewundern, werden dir womöglich fortan gehorchen. Deinen durch viele Erfahrungen gewitzten Einfluß kannst du ausüben, gehorche jetzt schon deiner Berufung, sammle Jünger und trete die Nachfolge Christi an.

Vielleicht ahnte Störtebeker, daß meine Nachdenklichkeit wohlbegründet-war. Er ließ mir Zeit, und ich war ihm dankbar dafür. Ende August. Eine Mondnacht, leichtbewölkt. Fliegeralarm. Zwei, drei Scheinwerfer an der Küste. Wahrscheinlich ein Aufklärungsflugzeug. In jenen Tagen wurde Paris geräumt. Mir gegenüber das vielfenstrige Hauptgebäude der Schokoladenfabrik Baltic. Nach langem Lauf kam die Heeresgruppe Mitte an der Weichsel zum Stehen. Allerdings arbeitete Baltic nicht mehr für den Einzelhandel, sondern stellte Schokolade für die Luftwaffe her. So mußte Oskar sich auch mit derVorstellung vertraut machen, daß die Soldaten des General Patton ihre amerikanischen Uniformen unter dem Eiffelturm spazierenführten. Das war schmerzlich für mich, und Oskar hob einen Trommelstock. Soviele gemeinsame Stunden mit Roswitha. Und Störtebeker bemerkte meine Geste, ließ seinen Blick dem Trommelstock folgen und auf die Schokoladenfabrik gleiten. Während man bei hellstem Tageslicht im Pazifik ein Inselchen von Japanern säuberte, lag hier der Mond in allen Fenstern der Fabrik gleichzeitig. Und Oskar sagte zu allen, die es hören wollten: »Jesus zersingt jetzt das Glas.«

Schon bevor ich die ersten drei Scheiben abfertigte, fiel mir das Gebrumm einer Fliege hoch über mir auf. Während zwei weitere Scheiben das Mondlicht aufgaben, dachte ich: das ist eine sterbende Fliege, die brummt so laut. Dann malte ich mit meiner Stimme die restlichen Fensterfüllungen des obersten Fabrikstockwerkes schwarz und überzeugte mich von der Bleichsucht mehrerer Scheinwerfer, bevor ich die Spiegelungen der Lichter, die in der Batterie neben dem Narviklager beheimatet sein mochten, aus mehreren Fabrikfenstern des mittleren und untersten Stockwerkes nahm. Zuerst schössen die Küstenbatterien, dann gab ich dem mittleren Stockwerk den Rest. Gleich darauf erhielten die Batterien Altschottland, Pelonken und Schellmühl Feuererlaubnis. Das waren drei Fenster im Parterre — und das waren Nachtjäger, die auf dem Flugplatz starteten, flach über die Fabrik hinwegstrichen. Noch bevor ich mit dem Erdgeschoß fertig war, stellte die Flak das Schießen ein und überließ es den Nachtjägern, einen über Oliva von drei Scheinwerfern gleichzeitig gefeierten viermotorigen Fernbomber abzuschießen.

Anfangs trug sich Oskar noch mit der Befürchtung, die Gleichzeitigkeit seiner Darbietung mit den effektvollen Anstrengungen der Fliegerabwehr könnte die Aufmerksamkeit der Burschen teilen oder sogar von der Fabrik weg in den Nachthimmel locken.

Um so erstaunter war ich, als nach getaner Arbeit die gesamte Bande immer noch nicht von der fensterscheibenlosen Schokoladenfabrik loskam. Selbst als vom nahen Hohenfriedberger Weg her Bravorufe und Applaus wie im Theater laut wurden, weil es den Bomber erwischt hatte, weil der brennend, den Leuten was bietend, im Jeschkentalerwald mehr abstürzte als landete, rissen sich nur wenige Bandenmitglieder, unter ihnen Putte, von der entglasten Fabrik los. Doch weder Störtebeker noch Kohlenklau, auf die es mir eigentlich ankam, gaben etwas auf den Abschuß.

Dann waren wie zuvor nur noch der Mond und der Kleinkram der Sterne am Himmel. Die Nachtjäger landeten. Sehr entfernt wurde etwas Feuerwehr laut. Da drehte sich Störtebeker, zeigte mir seinen immer verächtlich geschwungenen Mund, machte jene Boxbewegung, die die Armbanduhr unter dem zu langen Regenmantelärmel freigab, nahm sich die Uhr ab, reichte sie mir wortlos, aber schweratmend, wollte etwas sagen, mußte aber die mit der Entwarnung beschäftigten Sirenen abwarten, bis er mir unter dem Beifall seiner Leute gestehen konnte: »Gut Jesus. Wenn du willst, biste aufgenommen und kannst mitmachen. Wir sind die Stäuber, wenn dir das ein Begriff ist!«

Oskar wog die Armbanduhr in der Hand, schenkte das recht raffinierte Ding mit den Leuchtziffern und der Uhrzeit null Uhr dreiundzwanzig dem Bürschchen Kohlenklau. Der sah seinen Chef fragend an.

Störtebeker gab nickend die Einwilligung. Und Oskar sagte, indem er sich die Trommel für den Heimweg bequem rückte: »Jesus geht euch voran. Folget mir nach!«

DAS KRIPPENSPIEL

Man sprach damals viel von Wunderwaffen und vom Endsieg. Wir, die Stäuber, sprachen weder vom einen noch vom anderen, hatten aber die Wunderwaffe.

Als Oskar die Führung der dreißig bis vierzig Mitglieder zählenden Bande übernahm, ließ ich mir von Störtebeker zuerst den Chef der Gruppe Neufahrwasser vorstellen. Moorkähne, ein hinkender Siebzehnjähriger, Sohn eines leitenden Beamten im Lotsenamt Neufahrwasser, war wegen seiner Körperbehinderung — sein rechtes Bein war zwei Zentimeter kürzer als sein linkes — weder Luftwaffenhelfer noch Rekrut geworden. Obgleich Moorkähne sein Hinken selbstbewußt und deutlich ablesbar zur Schau stellte, war er schüchtern und sprach leise. Der immer etwas verschlagen lächelnde junge Mann galt als bester Schüler der Prima im Conradinum und hatte — vorausgesetzt, daß die russische Armee keinen Einspruch erheben würde — alle Aussichten, sein Abitur mustergültig zu bestehen; Moorkähne wollte Philosophie studieren.

Genauso bedingungslos, wie mich Störtebeker respektierte, sah der Hinker in mir den Jesus, der den Stäubern voranging. Gleich anfangs ließ sich Oskar von den beiden das Depot und die Kasse zeigen, denn beide Gruppen sammelten die Erträge ihrer Beutezüge im selben Keller. Der befand sich trocken und geräumig in einer still vornehmen Langfuhrer Villa am Jeschkentalerweg. Püttes Eltern, die sich »von Puttkamer« nannten, bewohnten das von allerlei Kletterpflanzen umrankte, mittels einer sanft ansteigenden Wiese der Straße entrückte Grundstück — das heißt, Herr von Puttkamer befand sich im schönen Frankreich, befehligte eine Division, war Ritterkreuzträger pommersch-polnisch-preußischer Herkunft; Frau Elisabeth von Puttkamer hingegen war kränklich, schon seit Monaten in Oberbayern; dort sollte sie genesen. Wolfgang von Puttkamer, den die Stäuber Putte riefen, beherrschte die Villa; denn jene alte, fast taube Magd, die in den oberen Räumen für das Wohl des jungen Herrn sorgte, sahen wir nie, da wir den Keller durch die Waschküche erreichten.

Im Depot stapelten sich Konservendosen, Tabakwaren und mehrere Ballen Fallschirmseide. An einem Regal hingen zwei Dutzend Wehrmachtdienstuhren, die Putte auf Störtebekers Befehl ständig in Gang zu halten und aufeinander abzustimmen hatte. Auch mußte der die zwei Maschinenpistolen, das Sturmgewehr und die Pistolen reinigen. Man zeigte mir eine Panzerfaust, MG-Munition und fünfundzwanzig Handgranaten. Das alles und eine stattliche Reihe Benzinkanister war für die Erstürmung des Wirtschaftsamtes bestimmt. So lautete denn Oskars erster Befehl, den ich als Jesus aussprach: »Waffen und Benzin im Garten vergraben. Schlagbolzen an Jesus abliefern. Unsere Waffen sind anderer Art!«

Als mir die Burschen eine Zigarrenkiste voller zusammengeraubter Orden und Ehrenzeichen vorzeigten, erlaubte ich ihnen lächelnd den Besitz der Dekorationen. Doch hätte ich die Fallschirmjägermesser den Burschen abnehmen sollen. Sie gebrauchten später die Klingen, die ja so schön im Griff lagen und gebraucht werden wollten.

Dann brachte man mir die Kasse. Oskar ließ vorzählen, zählte nach und ließ einen Kassenstand von zweitausendvierhundertzwanzig Reichsmark notieren. Das war Anfang September vierundvierzig.

Und als Mitte Januar fünfundvierzig Konjew und Schukow den Durchbruch an der Weichsel erzwangen, sahen wir uns gezwungen, unsere Kasse im Kellerdepot preiszugeben. Putte legte das Geständnis ab, und auf dem Tisch des Oberlandesgerichtes bündelten und stapelten sich sechsunddreißigtausend Reichsmark.

Meiner Natur entsprechend hielt Oskar sich während der Aktionen im Hintergrund. Tagsüber suchte ich zumeist alleine, und wenn, dann nur von Störtebeker begleitet, ein lohnendes Ziel für das nächtliche Unternehmen, überließ dann Störtebeker oder Moorkähne die Organisation und zersang — jetzt nenne ich sie, die Wunderwaffe — fern wirkender als je zuvor, ohne die Wohnung der Mutter Truczinski zu verlassen, zu später Stunde vom Schlafzimmerfenster aus die Parterrefenster mehrerer Parteidienststellen, das Hoffenster einer Druckerei, in der Lebensmittelkarten gedruckt wurden, und einmal, auf Wunsch und widerstrebend, die Küchenfenster zur Privatwohnung eines Studienrates, an dem die Burschen sich rächen wollten.

Das war schon im November. V1 und V2 flogen nach England, und ich sang über Langfuhr hinweg, dem Baumbestand der Hindenburgallee folgend, Hauptbahnhof, Altstadt und Rechtstadt überspringend, suchte die Fleischergasse und das Museum auf, ließ die Burschen eindringen und nach Niobe, der hölzernen Galionsfigur, suchen.

Sie fanden sie nicht. Nebenan saß Mutter Truczinski fest und kopfwackelnd im Stuhl, hatte mit mir einiges gemeinsam; denn wenn Oskar fernwirkend sang, dachte sie fernwirkend, suchte den Himmel nach ihrem Sohn Herbert, den Frontabschnitt Mitte nach ihrem Sohn Fritz ab. Auch ihre älteste Tochter Guste, die Anfang vierundvierzig ins Rheinland heiratete, mußte sie im fernen Düsseldorf suchen, denn dort hatte der Oberkellner Köster seine Wohnung, weilte aber in Kurland; Guste durfte ihn nur knappe vierzehn Urlaubstage lang halten und kennenlernen.

Das waren friedliche Abende. Oskar saß zu Mutter Truczinskis Füßen, phantasierte ein wenig auf seiner Trommel, holte sich aus der Röhre des Kachelofens einen Bratapfel, verschwand mit der faltigen Altfrauen-und Kleinkinderfrucht im dunklen Schlafzimmer, zog das Verdunklungspapier hoch, öffnete das Fenster einen Spalt breit, ließ etwas Frost und Nacht hereinkommen und schickte seinen gezielten, fernwirkenden Gesang hinaus, sang aber keinen zitternden Stern an, hatte nichts auf der Milchstraße zu suchen, sondern meinte den Winterfeldplatz, dort nicht das Rundfunkgebäude, sondern den Kasten gegenüber, in dem die Gebietsführung der HJ ihre Büroräume Tür an Tür reihte.

Meine Arbeit brauchte bei klarem Wetter keine Minute. Etwas abgekühlt hatte sich inzwischen der Bratapfel am offenen Fenster. Kauend kehrte ich zu Mutter Truczinski und meiner Trommel zurück, ging bald zu Bett und durfte gewiß sein, daß die Stäuber, während Oskar schlief, in Jesu Namen Parteikassen, Lebensmittelkarten und, was wichtiger war, Amtsstempel, vorgedruckte Formulare oder eine Mitgliederliste des HJ-Streifendienstes raubten.

Nachsichtig überließ ich es Störtebeker und Moorkähne, allerlei Unsinn mit gefälschten Ausweisen anzustellen. Der Hauptfeind der Bande war nun einmal der Streifendienst. Sollten sie also ihre Gegenspieler nach Lust und Laune abfangen, stäuben, ihnen, von mir aus — wie es Kohlenklau nannte und auch besorgte — die Eier polieren.

Diesen Veranstaltungen, die nur Vorspiel bedeuteten und noch nichts von meinen eigentlichen Plänen verrieten, blieb ich ohnehin fern, kann also auch nicht bezeugen, ob die Stäuber es waren, die im September vierundvierzig zwei höhere Streifendienstführer, darunter den gefürchteten Helmut Neitberg, fesselten und in der Mottlau, oberhalb der Kuhbrücke, ersäuften.

Daß, wie es später hieß, Verbindungen zwischen der Stäuberbande und den Edelweißpiraten aus Köln am Rhein bestanden hätten, daß polnische Partisanen aus dem Gebiet der Tuchler Heide unsere Aktionen beeinflußt, sogar gelenkt hätten, muß von mir, der ich doppelt, als Oskar und Jesus der Bande vorstand, bestritten und ins Reich der Legende verwiesen werden.

Auch sagte man uns beim Prozeß Beziehungen zu den Attentätern und Verschwörern des zwanzigsten Juli nach, weil Püttes Vater, August von Puttkamer, dem Feldmarschall Rommel sehr nahegestanden und Selbstmord verübt hatte. Putte, der seinen Vater während des Krieges vielleicht vier-oder fünfmal flüchtig und mit wechselnden Rangabzeichen gesehen hatte, erfuhr erst bei unserem Prozeß von jener, uns im Grunde gleichgültigen Offiziersgeschichte und weinte so jämmerlich und schamlos, daß Kohlenklau, sein Nebenmann, ihn vor den Richtern stäuben mußte.

Ein einziges Mal nahmen während unserer Tätigkeit Erwachsene zu uns Kontakt auf. Werftarbeiter — wie ich sofort vermutete, kommunistischer Herkunft — versuchten über unsere Lehrlinge von der Schichauwerft Einfluß zu gewinnen und uns zu einer roten Untergrundbewegung zu machen. Die Lehrlinge waren nicht einmal abgeneigt. Die Gymnasiasten jedoch lehnten jede politische Tendenz ab.

Der Luftwaffenhelfer Mister, Zyniker und Theoretiker der Stäuberbande, formulierte seine Ansicht während einer Bandenversammlung dahin: »Wir haben überhaupt nichts mit Parteien zu tun, wir kämpfen gegen unsere Eltern und alle übrigen Erwachsenen; ganz gleich wofür oder wogegen die sind.«

Wenn Mister sich auch reichlich überspitzt ausgedrückt hatte, stimmten ihm dennoch alle Gymnasiasten zu; es kam zu einer Spaltung der Stäuberbande. So machten die Schichaulehrlinge — was mir sehr leid tat, die Jungs waren tüchtig — einen eigenen Verein auf, hielten sich aber, gegen Störtebekers und Moorkähnes Einspruch, weiterhin für die Stäuberbande. Beim Prozeß — denn ihr Laden flog gleichzeitig mit unserem auf — wurde ihnen der Brand des U-Boot-Mutterschiffes im Werftgelände zur Last gelegt. Über hundert U-Boot-Fahrer und Fähnriche zur See, die sich in der Ausbildung befanden, kamen damals auf schreckliche Weise ums Leben. Der Brand brach auf dem Deck aus, verwehrte den unter Deck schlafenden U-Boot-Besatzungen das Verlassen der Mannschaftsräume, und als die kaum achtzehnjährigen Fähnriche durch die Bullaugen ins rettende Hafenwasser wollten, blieben sie mit den Hüftknochen stecken, wurden rückwärts vom rasch um sich greifenden Feuer erfaßt und mußten von den Motorbarkassen aus abgeschossen werden, da sie allzu laut und anhaltend schrien.

Wir haben das Feuer nicht gelegt. Vielleicht waren es die Lehrlinge der Schichauwerft, vielleicht aber auch Leute vom Westerlandverband. Die Stäuber waren keine Brandstifter, obgleich ich, ihr geistiger Rektor, vom Großvater Koljaiczek her brandstifterisch veranlagt sein mochte.

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