Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (55 page)

Es hatte mich also alle Welt verlassen, und nur der Schatten meiner armen Mama, der dem Matzerath lähmend auf die Finger fiel, wenn er ein vom Reichsgesundheitsministerium verfaßtes Schreiben unterzeichnen wollte, verhinderte mehrmals, daß ich, der Verlassene, diese Welt verließ.

Oskar möchte nicht undankbar sein. Meine Trommel blieb mir noch. Auch blieb mir meine Stimme, die Ihnen, die Sie alle meine Erfolge dem Glas gegenüber kennen, kaum etwas Neues bieten kann, die manchen unter Ihnen, der den Wechsel liebt, langweilen mag — mir jedoch war Oskars Stimme über der Trommel ein ewig frischer Beweis meiner Existenz; denn solange ich Glas zersang, existierte ich, solange mein gezielter Atem dem Glas den Atem nahm, war in mir noch Leben.

Oskar sang damals viel. Verzweifelt viel sang er. Immer wenn ich zu später Stunde die Herz-Jesu-Kirche verließ, zersang ich etwas. Ich ging nach Hause, suchte nicht einmal besonders, nahm mir ein schlechtverdunkeltes Mansardenzimmer vor oder auch eine blaubepinselte, luftschutzgerecht glimmende Straßenlaterne. Jedesmal nach dem Kirchenbesuch wählte ich einen anderen Heimweg.

Einmal kam Oskar durch den Anton-Möller-Weg auf die Marienstraße. Einmal stiefelte er den Uphagenweg hoch, ums Conradinum herum, ließ dort das verglaste Schulportal klirren und kam über die Reichskolonie zum Max-Halbe-Platz. Als ich an einem der letzten Augusttage zu spät zur Kirche kam und das Portal schon verschlossen fand, entschloß ich mich zu einem größeren Umweg, der meiner Wut Luft machen sollte. Die Bahnhofstraße lief ich, jede dritte Laterne killend, hoch, bog hinterm Filmpalast rechts in die Adolf-Hitler-Straße ein, ließ die Fensterfront der Infanteriekaserne links liegen, kühlte jedoch mein Mütchen an einer mir aus Richtung Oliva entgegenkommenden, fast leeren Straßenbahn, deren linker Seite ich alle trüb abgedunkelten Scheiben nahm.

Kaum achtete Oskar auf seinen Erfolg, ließ die Straßenbahn kreischen und bremsen, ließ die Leute aussteigen, schimpfen und wieder einsteigen, suchte nach einem Nachtisch für seine Wut, nach einem Leckerbissen in jener an Leckerbissen so armen Zeit und blieb erst in seinen Schnürschuhen stehen, als er am äußersten Rand des Vorortes Langfuhr angelangt, neben der Tischlerei Berendt, dem weiten Barackenlager des Flugplatzes vorgelagert, das Hauptgebäude der Schokoladenfabrik Baltic im Mondschein liegen sah.

Meine Wut war jedoch nicht mehr so groß, daß ich mich der Fabrik auf altbewährte Weise sofort vorgestellt hätte. Zeit nahm ich mir, zählte die vom Mond vorgezählten Scheiben nach, kam mit dem Mond zum selben Ergebnis, hätte jetzt mit der Vorstellung beginnen können, wollte aber erst wissen, was es mit den Halbwüchsigen auf sich hatte, die mir von Hochstrieß an, vermutlich schon unter den Kastanien der Bahnhofstraße hinterher waren. Allein sechs oder sieben standen vor oder in dem Wartehäuschen neben der Straßenbahnhaltestelle Hohenfriedberger Weg. Fünf weitere Burschen ließen sich hinter den ersten Bäumen der Chaussee nach Zoppot ausmachen.

Schon wollte ich den Besuch der Schokoladenfabrik verschieben, den Burschen aus dem Wege gehen, also einen Umweg machen und über die Eisenbahnbrücke am Flugplatz entlang durch die Laubenkolonie zur Aktienbierbrauerei am Kleinhammerweg schleichen, als Oskar auch von der Brücke her ihre aufeinander abgestimmten, signalartigen Pfiffe hörte. Da gab es keinen Zweifel mehr: der Aufmarsch galt mir.

Man zählt sich in solchen Lagen, während der kurzen Zeitspanne, da die Verfolger ausgemacht sind, die Hatz aber noch nicht begonnen hat, breit und genießerisch die letzten Rettungsmöglichkeiten auf: da hätte Oskar laut nach Mama und Papa schreien können. Da hätte ich wen nicht alles, womöglich einen Polizisten herbeitrommeln können. Da hätte ich bei meiner Statur gewiß die Unterstützung der Erwachsenen gefunden, lehnte aber — konsequent wie Oskar mitunter sein konnte — die Hilfe ausgewachsener Passanten, die Vermittlung eines Polizisten ab, wollte es, von Neugierde und Selbstbewußtsein geplagt, darauf ankommen lassen, tat das Allerdümmste: den geteerten Zaun vor dem Schokoladenfabrikgelände suchte ich nach einer Lücke ab, fand keine, sah, wie die Halbwüchsigen das Wartehäuschen an der Haltestelle, die Baumschatten der Zoppoter Chaussee verließen, Oskar weiter am Zaun entlang, jetzt kamen sie auch von der Brücke her, und der Bretterzaun hatte immer noch kein Loch, die kamen nicht schnell, eher schlendernd und vereinzelt, ein bißchen konnte Oskar noch suchen, die gönnten mir gerade soviel Zeit, wie man braucht, um eine Lücke im Zaun zu finden, doch als dann endlich eine einzige Planke fehlte, und ich mich, irgendwo ein Eckloch reißend, durch den Spalt quetschte, standen mir auf der anderen Seite des Zaunes vier Burschen in Windblusen gegenüber, die mit ihren Pfoten die Taschen ihrer Skihosen beutelten.

Da ich das Unabänderliche meiner Situation sofort begriff, suchte ich erst einmal meine Kleidung nach jenem Eckloch ab, das ich mir in der Zaunlücke gerissen hatte. Es fand sich rechts hinten an der Hose.

Mit zwei gespreizten Fingern maß ich es aus, fand es- ärgerlich groß, stellte mich aber gleichgültig und wartete mit dem endgültigen Aufblicken, bis alle Burschen von der Straßenbahnhaltestelle, von der Chaussee und der Brücke über den Zaun geklettert waren; denn die Lücke im Zaun war denen nicht angemessen.

Das ereignete sich in den letzten Augusttagen. Der Mond hielt sich von Zeit zu Zeit eine Wolke vor.

So an die zwanzig Burschen zählte ich. Die jüngsten vierzehn, die ältesten sechzehn, fast siebzehn.

Vierundvierzig hatten wir einen warmen, trockenen Sommer. Vier von den größeren Bengels trugen Luftwaffenhelferuniformen. Ich erinnere mich, daß wir Vierundvierzig ein gutes Kirschenjahr hatten.

Sie standen in Grüppchen um Oskar herum, unterhielten sich halblaut, benutzten einen Jargon, den zu verstehen ich mir keine Mühe gab. Auch riefen sie sich mit merkwürdigen Namen an, die ich mir zum kleineren Teil merkte. So hieß ein etwa fünfzehnjähriges Kerlchen mit leicht verschleierten Rehaugen Ritschhase, manchmal auch Dreschhase. Den daneben nannten sie Putte. Den kleinsten, doch sicher nicht jüngsten Bengel, einen Lispler mit vorstehender Oberlippe, rief man Kohlenklau. Einen Luftwaffenhelfer sprach man als Mister an, einen anderen recht treffend Suppenhuhn, auch gab es historische Namen: Löwenherz, Blaubart hieß ein Milchgesicht, mir wohlvertraute Namen wie Totila und Teja, ja vermessen genug, Belisar und Narses machte ich aus; Störtebeker, der einen richtigen, zum Ententeich verbeulten Velourshut und einen zu langen Regenmantel trug, musterte ich aufmerksamer: er war trotz seiner sechzehn Jährchen der Anführer der Gesellschaft.

Man beachtete Oskar nicht, wollte ihn wohl mürbe machen, und so setzte ich mich halb belustigt, halb über mich, der ich mich auf diese offensichtliche Knabenromantik einließ, verärgert und mit müden Beinen auf meine Trommel, sah mir den so gut wie vollen Mond an und versuchte, einen Teil meiner Gedanken in die Herz-Jesu-Kirche zu schicken.

Vielleicht hätte er heute getrommelt, auch ein Wörtchen gesagt. Und ich saß auf dem Hof der Schokoladenfabrik Baltic, ließ mich auf Ritterundräuberspiele ein. Vielleicht wartete er auf mich, hatte vor, nach einer kurzen Trommeleinlage den Mund abermals aufzutun, mir die Nachfolge Christi zu verdeutlichen, war nun enttäuscht, daß ich nicht kam, hob sicherlich hochmütig die Augenbrauen. Was mochte Jesus von diesen Burschen halten? Was sollte Oskar, sein Ebenbild, sein Nachfolger und Stellvertreter mit dieser Horde anfangen? Konnte er mit Jesu Worten »Lasset die Kindlein zu mir kommen!« Halbwüchsige ansprechen, die sich Putte, Dreschhase, Blaubart, Kohlenklau und Störtebeker nannten?

Störtebeker näherte sich. Neben ihm Kohlenklau, seine rechte Hand. Störtebeker: »Steh auf!«

Oskar hatte die Augen noch beim Mond, die Gedanken noch vor dem linken Seitenaltar der Herz-Jesu-Kirche, stand nicht auf, und Kohlenklau schlug mir, auf einen Wink Störtebekers hin, die Trommel unter dem Gesäß weg.

Als ich aufstand, nahm ich das Blech, um es vor weiteren Schäden besser bewahren zu können, an mich, unter den Kittel.

Ein hübscher Bengel, dieser Störtebeker, dachte Oskar. Die Augen etwas zu tief und zu nah beieinanderliegend, doch die Mundpartie einfallsreich und beweglich. »Wo kommste her?«

Die Fragerei sollte also beginnen, und ich hielt mich, da mir diese Begrüßung nicht gefiel, abermals an die Mondscheibe, stellte mir den Mond — der sich ja alles gefallen läßt — als Trommel vor und lächelte über meinen unverbindlichen Größenwahn. »Der grinst, Störtebeker.«

Kohlenklau beobachtete mich, schlug seinem Chef eine Tätigkeit vor
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die er »das Stäuben« nannte.

Andere im Hintergrund, das pickelige Löwenherz, Mister, Dreschhase und Putte waren auch fürs Stäuben.

Immer noch beim Mond, buchstabierte ich mir Stäuben. Welch ein hübsches Wörtchen, doch sicher nichts Angenehmes.

»Hier bestimme ich, wann gestäubt wird!« beendete Störtebeker das Gemurmel seiner Bande, meinte dann wieder mich: »Haben dich oft genug in der Bahnhofstraße gesehen. Was machste da? Wo kommste her?«

Zwei Fragen auf einmal. Wenigstens zu einer Antwort mußte sich Oskar entschließen, wenn er Herr der Lage bleiben wollte. So zog ich das Gesicht vom Mond weg, blickte den Störtebeker mit meinen blauen, einflußreichen Augen an und sagte ruhig: »Aus der Kirche komme ich.«

Etwas Gemurmel hinter Störtebekers Regenmantel. Sie ergänzten meine Antwort. Kohlenklau fand heraus, daß ich mit Kirche die Herz-Jesu-Kirche meinte.

»Wie heißt du?«

- Diese Frage mußte kommen. Das lag an der Begegnung. Diese Fragestellung nimmt einen wesentlichen Platz in der menschlichen Konversation ein. Von der Beantwortung dieser Frage leben längere und kürzere Theaterstücke, auch Opern — siehe Lohengrin.

Da wartete ich das Mondlicht zwischen zwei Wolken ab, ließ jenen Glanz im Blau meiner Augen drei Löffel Suppe lang auf Störtebeker wirken und sagte dann, nannte mich, war neidisch auf die Wirkung des Wortes — denn den Namen Oskar hätten die allenfalls mit Gelächter quittiert — und Oskar sagte:

»Ich heiße Jesus«, bewirkte längere Stille mit diesem Bekenntnis, bis Kohlenklau sich räusperte: »Wir müssen ihn doch stäuben, Chef.«

Nicht nur Kohlenklau war fürs Stäuben. Störtebeker gab mit den Fingern schnalzend seine Erlaubnis zum Stäuben, und Kohlenklau packte mich, drückte mir seine Knöchel gegen den rechten Oberarm, bewegte sie trocken, rasch, heiß und schmerzhaft, bis Störtebeker abermals, jetzt Einhalt gebietend mit den Fingern schnalzte — das war also das Stäuben!

»Na, wie heißte nun?« Der Chef mit dem Velourshut gab sich gelangweilt, machte rechts eine Boxbewegung, die den zu langen Ärmel seines Regenmantels zurückrutschen ließ, zeigte im Mondschein seine Armbanduhr und flüsterte links an mir vorbei: »Eine Minute Bedenkzeit. Dann sagt Störtebeker Feierabend.«

Immerhin eine Minute lang durfte sich Oskar ungestraft den Mond ansehen, Ausflüchte in dessen Kratern suchen und den einmal gefaßten Entschluß zur Nachfolge Christi in Frage stellen. Weil mir das Wörtchen Feierabend nicht gefiel, auch weil ich mich von den Burschen auf keinen Fall mit Uhrzeiten bevormunden lassen wollte, sagte Oskar nach etwa fünfunddreißig Sekunden: »Ich bin Jesus.«

Das Folgende wirkte effektvoll und war dennoch nicht von mir inszeniert. Sogleich nach meinem abermaligen Bekenntnis zur Nachfolge Christi, bevor Störtebeker mit den Fingern schnalzen, Kohlenklau stäuben konnte — gab es Fliegeralarm.

Oskar sagte »Jesus«, atmete wieder ein, und nacheinander bestätigten mich die Sirenen des nahen Flugplatzes, die Sirene auf dem Hauptgebäude der Infanteriekaserne Hochstrieß, die Sirene auf dem Dach der kurz vorm Langfuhrer Wald liegenden Horst-Wessel-Oberschule, die Sirene auf dem Kaufhaus Sternfeld und ganz fern, von der Hindenburgallee her, die Sirene der Technischen Hochschule. Es brauchte seine Zeit, bis alle Sirenen des Vorortes langatmig und eindringlich gleich Erzengeln die von mir verkündete frohe Botschaft aufnahmen, die Nacht schwellen und einsinken, die Träume flimmern und reißen ließen, den Schläfern ins Ohr krochen und dem Mond, der nicht zu beeinflussen war, die schreckliche Bedeutung eines nicht zu verdunkelnden Himmelskörpers gaben.

Während Oskar den Fliegeralarm ganz auf seiner Seite wußte, machten die Sirenen den Störtebeker nervös. Ein Teil seiner Bande wurde durch den Alarm direkt und dienstlich angesprochen. So mußte er die vier Luftwaffenhelfer über den Zaun zu ihren Batterien, zu den Acht-Komma-Acht-Stellungen zwischen Straßenbahndepot und Flugplatz schicken. Drei seiner Leute, darunter Belisar, hatten Luftschutzwache im Conradinum, mußten also auch sogleich fort. Den Rest, etwa fünfzehn Burschen, hielt er zusammen und begann, da am Himmel nichts los war, wieder mit dem Verhör: »Also wenn wir richtig verstanden haben, biste Jesus. — Lassen wir das. Andere Frage: wie machste das mit den Laternen und Fensterscheiben? Keine Ausflüchte, wir wissen Bescheid!«

Nun, Bescheid wußten die Burschen nicht. Allenfalls hatten sie diesen oder jenen Erfolg meiner Stimme beobachtet. Oskar befahl sich einige Nachsicht mit jenen Halbwüchsigen, die man heutzutage kurz und bündig Halbstarke nennen würde. Ich versuchte, ihre direkte und teilweise ungeschickte Zielstrebigkeit zu entschuldigen, gab mich mild objektiv. Das also waren die berüchtigten Stäuber, von denen seit einigen Wochen die ganze Stadt sprach; eine Jugendbande, der die Kriminalpolizei und mehrere Züge des HJ-Streifendienstes hinterher waren. Wie sich später herausstellen sollte: Gymnasiasten des Conradinums, der Petri-Oberschule und der Horst-Wessel-Oberschule. Auch gab es eine zweite Gruppe der Stäuberbande in Neufahrwasser, die zwar von Gymnasiasten geführt wurde, aber zu gut zwei Dritteln Lehrlinge der Schichauwerft und der Waggonfabrik zu Mitgliedern hatte. Die beiden Gruppen arbeiteten nur selten, eigentlich nur dann zusammen, wenn sie von der Schichaugasse aus den Steffenspark und die nächtliche Hindenburgallee nach BdM-Führerinnen abkämmten, die nach Schulungsabenden von der Jugendherberge auf dem Bischofsberg heimkehrten. Man vermied Streitigkeiten zwischen den Gruppen, grenzte die Aktionsgebiete genau ab, und Störtebeker sah in dem Anführer der Neufahrwasseraner mehr einen Freund als einen Rivalen. Die Stäuberbande kämpfte gegen alles. Sie räumten die Dienststellen der Hitlerjugend aus, hatten es auf die Orden und Rangabzeichen von Fronturlaubern abgesehen, die mit ihren Mädchen in den Parkanlagen Liebe machten, stahlen Waffen, Munition und Benzin mit Hilfe ihrer Luftwaffenhelfer aus den Flakbatterien und planten von Anfang an einen großen Angriff auf das Wirtschaftsamt.

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