Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (24 page)

Längere Zeit hörte ich nur Mamas Wimmern, leichtes Bettknarren, gedämpftes Gemurmel aus dem Wohnzimmer. Jan beruhigte Matzerath. Matzerath bat Jan, Mama zu beruhigen. Das Gemurmel magerte ab, Jan betrat das Schlafzimmer. Dritter Akt: Er stand vor dem Bett, betrachtete abwechselnd Mama und die büßende Magdalena, setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, streichelte der auf dem Bauch liegenden Mama Rücken und Gesäß, sprach beschwichtigend kaschubisch auf sie ein und fuhr ihr schließlich — weil Worte nicht mehr halfen — mit der Hand unter den Rock, bis sie aufhörte zu wimmern und Jan den Blick von der vielfingrigen Magdalena wegnehmen konnte. Man muß das gesehen haben, wie Jan nach getaner Arbeit aufstand, sich die Finger mit dem Taschentuch betupfte, dann Mama laut und nicht mehr kaschubisch, damit es Matzerath im Wohnzimmer oder in der Küche verstehen konnte, Wort für Wort betonend ansprach: »Nu komm Agnes, wir wolln das jetzt endlich vergessen. Alfred hat die Aale schon längst rausgebracht und ins Klo geschüttet. Wir dreschen jetzt einen anständigen Skat, von mir aus auch Viertelpfennigskat, und wenn wir dann alles hinter uns haben und wieder gut sind, macht Alfred uns Pilze mit Rührei und Bratkartoffeln.«

Mama sagte nichts darauf, drehte sich vom Bett, strich die gelbe Steppdecke wieder gerade, schüttelte sich ihre Frisur vor den Spiegeltüren des Schrankes zurecht und verließ hinter Jan das Schlafzimmer.

Ich nahm mein Auge von dem Sehschlitz und hörte bald darauf, wie sie die Karten mischten. Kleines vorsichtiges Gelächter, Matzerath hob ab, Jan verteilte, und da reizten sie ihre Karten aus. Ich glaube, Jan reizte Matzerath. Der paßte schon bei dreiundzwanzig. Woraufhin Mama Jan bis sechsunddreißig reizte, dann mußte auch er klein beigeben, und Mama spielte einen Grand, den sie knapp verlor. Den folgenden Karo einfach gewann Jan bombensicher, während Mama das dritte Spiel, einen Herzhand ohne Zwein knapp, aber dennoch nach Hause brachte.

Gewiß, daß dieser Familienskat, durch Rührei, Pilze und Bratkartoffeln kurz unterbrochen, bis in die Nacht hineinreichen würde, hörte ich den folgenden Spielen kaum noch zu, versuchte vielmehr, wieder zur Schwester Inge und ihren weißen, schlaffördernden Berufskleidern zurückzufinden. Es sollte mir aber der Aufenthalt in der Praxis des Dr. Hollatz getrübt bleiben. Nicht nur, daß grün, blau, gelb und schwarz immer wieder in den roten Text der Rotkreuzbrosche sprachen, auch die Ereignisse des Vormittags drängten sich dazwischen: immer wenn sich die Tür zum Sprechzimmer und zur Schwester Inge öffnete, bot sich nicht der reine und leichte Anblick der Krankenpflegerinnentracht, sondern es zog der Stauer auf der Hafenmole von Neufahrwasser unter dem Seezeichen Aale aus triefend wimmelndem Pferdekopf, und was sich als Weiß ausgab, was ich der Schwester Inge zuordnen wollte, das waren Möwenflügel, die für den Augenblick täuschend das Aas und die Aale im Aas verdeckten, bis wieder die Wunde aufbrach, doch nicht blutete und Rot spendete, sondern schwarz war der Rappe, flaschengrün die See, ein bißchen Rost brachte der Finne, der Holz geladen hatte, ins Bild und die Möwen — man soll mir nicht mehr von Tauben sprechen — die bewölkten das Opfer und tauchten die Flügelspitzen ein und warfen den Aal meiner Schwester Inge zu, die fing ihn auch, feierte ihn und wurde zur Möwe, nahm Gestalt an, nicht Taube, wenn schon Heiliger Geist, dann in jener Gestalt, die da Möwe heißt, sich als Wolke aufs Fleisch senkt und Pfingsten feiert.

Die Mühe aufgebend, gab ich damals den Schrank auf, stieß die Spiegeltüren unwillig auseinander, stieg aus dem Kasten, fand mich unverändert vor den Spiegeln, war aber immerhin froh, daß Frau Kater keine Teppiche mehr klopfte. Zwar war der Karfreitag für Oskar zu Ende, aber die Passionszeit sollte erst nach Ostern beginnen.

DIE VERJÜNGUNG ZUM FUSSENDE

Doch auch für Mama sollte erst nach diesem Karfreitag des aalwimmelnden Pferdekopfes, nach dem Osterfest erst, das wir mit den Bronskis im ländlichen Bissau bei der Großmutter und dem Onkel Vinzent verbrachten, eine Leidenszeit beginnen, die selbst durch gutgelauntes Maiwetter nicht zu beeinflussen war.

Es stimmt nicht, daß Matzerath Mama zwang, wieder Fisch zu essen. Aus freien Stücken und von rätselhaftem Willen besessen, begann sie knapp zwei Wochen nach Ostern, Fisch in solchen Mengen und ohne Rücksicht auf ihre Figur zu verschlingen, daß Matzerath sagte: »Nu iß nicht soviel von dem Fisch, als wenn man dich zwingen würd'.«

Aber sie begann mit Ölsardinen zum Frühstück, fiel zwei Stunden später, wenn nicht gerade Kundschaft im Geschäft war, über das Sperrholzkistchen mit den Bohnsacker Sprotten her, verlangte zum Mittagessen gebratene Flundern oder Pomuchel in Senfsoße, hatte am Nachmittag schon wieder den Büchsenöffner in der Hand: Aal in Gelee, Rollmöpse, Bratheringe, und wenn Matzerath sich weigerte, zum Abendbrot wieder Fisch zu braten oder zu kochen, dann verlor sie kein Wort, schimpfte nicht, stand ruhig vom Tisch auf und kam mit einem Stück geräuchertem Aal aus dem Laden zurück, daß uns der Appetit verging, weil sie mit dem Messer der Aalhaut innen und außen das letzte Fett abschabte und überhaupt nur noch Fisch mit dem Messer aß. Tagsüber mußte sie sich mehrmals übergeben. Matzerath war hilflos besorgt, fragte: »Biste v'leicht schwanger oder was is?«

»Quatsch nich son Zeug«, sagte dann Mama, wenn sie überhaupt etwas sagte, und als die Großmutter Koljaiczek eines Sonntags, als Aal Grün mit frischen Kartoffeln in Maibutter schwimmend auf den Mittagstisch kamen, mit flacher Hand zwischen die Teller schlug, »Nu, Agnes«, sagte, »nu sag mal, was is? Was ißte Fisch, wenn dir nich bekommt und sagst nich warum und tust wie Deikert!« schüttelte Mama nur den Kopf, schob die Kartoffeln zur Seite, führte den Aal durch die Maibutter und aß unentwegt, als hätte sie eine Fleißaufgabe zu erfüllen. Jan Bronski sagte nichts. Als ich die beiden einmal auf der Chaiselongue überraschte, hielten sie sich zwar wie sonst an den Händen und hatten verrutschte Kleider, doch fielen mir Jans verweinte Augen und Mamas Apathie auf, die jedoch plötzlich ins Gegenteil umschlug. Sie sprang auf, griff, hob, drückte mich, zeigte mir einen Abgrund, der wohl durch nichts, auch durch Unmengen gebratener, gesottener, eingelegter und geräucherter Fische nicht auszufüllen war.

Wenige Tage später sah ich, wie sie in der Küche nicht nur über die gewohnten, verdammten Ölsardinen herfiel, sie goß auch das Öl aus mehreren älteren Dosen, die sie aufbewahrt hatte, in eine kleine Soßenpfanne, erhitzte die Brühe über der Gasflamme und trank davon, während mir, der ich in der Küchentür stand, die Hände von der Trommel fielen.

Noch am selben Abend mußte Mama in die städtischen Krankenanstalten eingeliefert werden.

Matzerath weinte und jammerte, bevor der Krankenwagen kam: »Warum willste das Kind denn nich?

Is ja gleich, von wem es is. Oder isses noch immer wegen dem blöden Pferdekopf? Warn wir da bloß nich hingegangen! Nu vergiß das doch, Agnes. War ja nich Absicht von mir.«

Der Krankenwagen kam, Mama wurde hinausgetragen. Kinder und Erwachsene sammelten sich auf der Straße, man fuhr sie fort, und es sollte sich herausstellen, daß Mama weder die Mole noch den Pferdekopf vergessen hatte, daß sie die Erinnerung an den Gaul — ob der nun Fritz oder Hans geheißen hatte — mit sich nahm. Ihre Organe erinnerten sich schmerzhaft überdeutlich an den Karfreitagsspaziergang und ließen, aus Angst vor einer Wiederholung des Spazierganges, meine Mama, die mit ihren Organen einer Meinung war, sterben.

Dr. Hollatz sprach von Gelbsucht und Fischvergiftung. Im Krankenhaus stellte man fest, daß Mama sich im dritten Schwangerschaftsmonat befand, gab ihr ein Einzelzimmer, und sie zeigte uns, die wir sie besuchen durften, vier Tage lang ihr angeekeltes, im Ekel mich manchmal anlächelndes, von Krämpfen verwüstetes Gesicht.

Wenn sie sich auch Mühe gab, ihren Besuchern kleine Freuden zu bereiten, wie auch ich mir heutzutage Mühe gebe, meinen Freunden an den Besuchstagen beglückt zu erscheinen, konnte sie dennoch nicht verhindern, daß ein periodisch auftretender Brechreiz ihren langsam nachgebenden Körper immer wieder umstülpte, obgleich dem nichts mehr entfallen wollte, als schließlich am vierten Tage jenes mühevollen Sterbens jenes bißchen Atem, das jeder endlich ausstoßen muß, um den Totenschein zu bekommen.

Wir atmeten alle auf, als sich in meiner Mama keine Anlässe mehr für die ihre Schönheit so entstellenden Brechreize fanden. Sobald sie gewaschen im Leichenhemd lag, zeigte sie uns auch wieder ihr vertrautes rundes, schlau naives Gesicht. Die Oberschwester drückte Mama die Augen zu, weil Matzerath und Jan Bronski weinten und blind waren.

Ich konnte nicht weinen, da all die anderen, die Männer und die Großmutter, Hedwig Bronski und der bald vierzehnjährige Stephan weinten. Auch überraschte mich der Tod meiner Mama kaum. War es Oskar, der sie am Donnerstag in die Altstadt und am Sonnabend in die Herz-Jesu-Kirche begleitete, nicht vorgekommen, als suche sie schon seit Jahren angestrengt nach einer Möglichkeit, das Dreieckverhältnis dergestalt aufzulösen, daß Matzerath, den sie womöglich haßte, die Schuld an ihrem Tod erbte, daß Jan Bronski, ihr Jan, seinen Dienst bei der polnischen Post mit Gedanken fortsetzen konnte, wie: Sie ist für mich gestorben, sie wollte mir nicht im Wege stehn, sie hat sich geopfert.

Bei aller Berechnung, der beide, Mama und Jan, fähig waren, wenn es galt, ihrer Liebe ein ungestörtes Bett zu beschaffen, zeigten sie gleichviel Begabung zur Romanze: man kann, wenn man will, in ihnen Romeo und Julia oder jene zwei Königskinder sehen, die angeblich nicht zusammenkamen, weil das Wasser zu tief war.

Während Mama, die die Sterbesakramente rechtzeitig mitbekommen hatte, kalt und durch nichts mehr zu bewegen unter den Gebeten des Priesters lag, fand ich Zeit und Muße, die Krankenschwestern, die zumeist protestantischer Konfession waren, zu beobachten. Sie falteten die Hände anders als die Katholiken, ich möchte sagen, selbstbewußter, sprachen das Vaterunser mit vom katholischen Originaltext abweichenden Worten und bekreuzigten sich nicht, wie es etwa die Großmutter Koljaiczek, die Bronskis und auch ich taten. Mein Vater Matzerath — ich nenne ihn gelegentlich so, auch wenn er mich nur mutmaßlich zeugte — er, der Protestant, unterschied sich beim Gebet von den anderen Protestanten, weil er die Hände nicht vor der Brust verankerte, sondern die Finger verkrampft unten, etwa in Höhe der Geschlechtsteile von einer Religion in die andere wechseln ließ und sich offensichtlich seiner Beterei schämte. Meine Großmutter kniete neben ihrem Bruder Vinzent vor dem Totenbett, betete laut und hemmungslos auf kaschubisch, während Vinzent nur die Lippen, wahrscheinlich auf polnisch bewegte, dafür die Augen aber voller geistigem Geschehen weitete. Ich hätte gerne getrommelt. Schließlich verdankte ich meiner armen Mama die vielen weißroten Bleche.

Sie hatte mir, als Gegengewicht zu Matzeraths Wünschen, das mütterliche Versprechen einer Blechtrommel in die Wiege gelegt, auch hatte mir Mamas Schönheit dann und wann, besonders als sie noch schlanker war und nicht turnen mußte, als Trommelvorlage dienen können. Schließlich konnte ich mich nicht mehr beherrschen, ließ im Sterbezimmer meiner Mama noch einmal das Idealbild ihrer grauäugigen Schönheit auf dem Blech zur Gestalt werden und wunderte mich, daß Matzerath es war, der den sofortigen Protest der Oberschwester dämpfte und »Lassen Sie ihn doch, Schwester, die hingen so aneinander« flüsternd, meine Partei ergriff.

Mama konnte sehr lustig sein. Mama konnte sehr ängstlich sein. Mama konnte schnell vergessen.

Mama hatte dennoch ein gutes Gedächtnis. Mama schüttete mich aus und saß dennoch mit mir in einem Bade. Mama ging mir manchmal verloren, aber ihr Finder ging mit ihr. Wenn ich Scheiben zersang, handelte Mama mit Kitt. Sie setzte sich manchmal ins Unrecht, obgleich es ringsherum Stühle genug gab. Auch wenn Mama sich zuknöpfte, blieb sie mir aufschlußreich. Mama fürchtete die Zugluft und machte dennoch ständig Wind. Sie lebte auf Spesen und zahlte ungerne Steuern. Ich war die Kehrseite ihres Deckblattes. Wenn Mama Herz Hand spielte, gewann sie immer. Als Mama starb, verblaßten die roten Flammen auf der Einfassung meiner Trommel etwas; der weiße Lack jedoch wurde weißer und so grell, daß selbst Oskar manchmal geblendet sein Auge schließen mußte.

Nicht auf dem Friedhof Saspe, wie sie es sich manchmal gewünscht hatte, sondern auf dem kleinen ruhigen Friedhof Brenntau wurde meine arme Mama beerdigt. Dort lag auch ihr im Jahr siebzehn an der Grippe gestorbener Stiefvater, der Pulvermüller Gregor Koljaiczek. Die Trauergemeinde war, wie es sich beim Begräbnis einer beliebten Kolonialwarenhändlerin versteht, groß, zeigte nicht nur die Gesichter der Stammkundschaft, sondern auch Handelsvertreter verschiedener Firmen, selbst Leute von der Konkurrenz wie den Kolonialwarenhändler Weinreich und Frau Probst aus dem Lebensmittelgeschäft in der Hertastraße. Die Kapelle des Friedhofes Brenntau konnte die Menge nicht ganz fassen. Es roch nach Blumen und schwarzen, eingemotteten Kleidern. Im offenen Sarg zeigte meine arme Mama ein gelbes, mitgenommenes Gesicht. Ich konnte während der umständlichen Zeremonien das Gefühl nicht loswerden: gleich wird es ihr den Kopf hochreißen, sie wird sich noch einmal übergeben müssen, sie hat noch etwas im Leib, das herauswill: nicht nur den drei Monate alten Embryo, der gleich mir nicht weiß, welchem Vater er Dank schuldet, nicht nur er will hinaus und gleich Oskar nach einer Trommel verlangen, da gibt es noch Fisch, gewiß keine Ölsardinen, ich will nicht von Flundern reden, ein Stückchen Aal meine ich, einige weiß-grünliche Fasern Aalfleisch, Aal von der Seeschlacht im Skagerrak, Aal von der Hafenmole Neufahrwasser, Karfreitagsaal, Aal aus dem Haupte des Rosses entsprungen, womöglich Aal aus ihrem Vater Joseph Koljaiczek, der unters Floß geriet und den Aalen anheimfiel, Aal von deinem Aal, denn Aal wird zu Aal. . .

Aber es kam kein Brechreiz auf. Sie behielt bei sich, nahm mit sich, hatte vor, den Aal unter die Erde zu bringen, damit endlich Ruhe Als Männer den Sargdeckel hoben und das gleichviel entschlossene wie angewiderte Gesicht meiner armen Mama zudecken wollten, fiel Anna Koljaiczek den Männern in die Arme, warf sich dann, die Blumen vor dem Sarg zertretend, über ihre Tochter und weinte, riß an der weißen, kostbaren Leichenausstattung und schrie laut auf kaschubisch.

Viele sagten später, sie habe meinen mutmaßlichen Vater Matzerath verflucht und den Mörder ihrer Tochter genannt. Auch soll von meinem Sturz von der Kellertreppe die Rede gewesen sein. Sie übernahm die Fabel von Mama und erlaubte Matzerath nicht, seine angebliche Schuld an meinem angeblichen Unglück zu vergessen. Sie hat ihn immer wieder angeklagt, obgleich Matzerath sie, aller Politik zum Trotz, fast widerwillig verehrte und während der Kriegsjahre mit Zucker und Kunsthonig, mit Kaffee und Petroleum versorgte.

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