Die Blechtrommel (25 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Der Gemüsehändler Greff und Jan Bronski, der hoch und weibisch weinte, führten meine Großmutter vorn Sarg fort. Die Männer konnten den Deckel schließen und endlich jene Gesichter machen, die Leichenträger immer dann machen, wenn sie sich unter den Sarg stellen.

Auf dem halb ländlichen Friedhof Brenntau mit seinen zwei Feldern beiderseits der Ulmenallee, mit seinem Kapellchen, das aussah wie eine Klebearbeit für Krippenspiele, mit seinem Ziehbrunnen, mit quicklebendiger Vogelwelt, auf der sauber geharkten Friedhofsallee, gleich hinter Matzerath die Prozession anführend, gefiel mir zum erstenmal die Form des Sarges. Ich habe später noch oft Gelegenheit gehabt, meinem Blick über schwarzes, bräunliches, für letzte Zwecke verwendetes Holz gleiten zu lassen. Der Sarg meiner armen Mama war schwarz. Er verjüngte sich auf wunderbar harmonische Weise zum Fußende hin. Gibt es auf dieser Welt eine Form, die den Proportionen des Menschen auf ähnlich gelungene Art entspricht?

Hätten die Betten doch diesen Schwund zum Fußende hin! Möchten sich doch all unsere gewohnten und gelegentlichen Liegen so eindeutig zum Fußende hin verjüngen. Denn, mögen wir uns noch so spreizen, endlich ist es doch nur diese schmale Basis, die unseren Füßen zukommt, die sich vom breiten Aufwand, den Kopf, Schultern und Rumpf beanspruchen, zum Fußende hin verjüngt.

Matzerath ging direkt hinter dem Sarg. Er trug den Zylinder in der Hand und gab sich beim langsamen Schreiten Mühe, trotz des großen Schmerzes die Knie zu strecken. Immer wenn ich seinen Nacken sah, tat er mir leid: sein ausladender Hinterkopf und die beiden Angströhren, die ihm aus dem Kragen gegen den Haaransatz wuchsen.

Warum nahm mich Mutter Truczinski bei der Hand und nicht Gretchen Scheffler oder Hedwig Bronski? Sie wohnte in der zweiten Etage unseres Mietshauses, hatte wohl keinen Vornamen, hieß überall Mutter Truczinski.Vor dem Sarg Hochwürden Wiehnke mit Meßdiener und Weihrauch. Mein Blick glitt von Matzeraths Nacken zu den kreuz und quer gefurchten Nacken der Leichenträger. Einen wilden Wunsch galt es zu bekämpfen: auf den Sarg wollte Oskar hinauf. Obendraufsitzen wollte er und trommeln. Nicht aufs Blech, auf den Sargdeckel wollte Oskar mit seinen Stöcken. Während sie ihn schwankend trugen, wollte er ihn reiten. Während die hinter ihm Hochwürden nachbeteten, wollte Oskar ihnen vortrommeln. Während sie ihn über dem Loch auf Brettern und Seilen absetzten, wollte Oskar auf dem Holz Haltung bewahren. Während Predigt, Meßglöckchen, Weihrauch und Weihwasser wollte er sein Latein aufs Holz klopfen und ausharren, während sie ihn mit dem Kasten an den Seilen herabließen. Mit Mama und dem Embryo wollte Oskar in die Grube. Unten bleiben, während die Hinterbliebenen ihre Hand voller Erde hinabwarfen, nicht hochkommen wollte Oskar, auf dem verjüngten Fußende wollte er sitzen, trommeln, wenn möglich, unter der Erde trommeln, bis ihm die Knüppel aus den Händen, das Holz unter den Knüppel, bis ihm seine Mama, bis er ihr, bis jeder dem anderen zuliebe faulte, das Fleisch an die Erde und ihre Bewohner abgab; auch mit den Knöchelchen hätte Oskar noch gerne den zarten Knorpeln des Embryos vorgetrommelt, wenn es nur möglich und erlaubt gewesen wäre.

Niemand saß auf dem Sarg. Ledig schwankte er unter den Ulmen und Trauerweiden des Brenntauer Friedhofes. Die bunten Hühner des Küsters zwischen den Gräbern, nach Würmern pickend, nicht säend und dennoch erntend. Dann zwischen Birken. Ich hinter Matzerath an Mutter Truczinskis Hand, gleich hinter mir meine Großmutter — Greff und Jan führten sie —, Vinzent Bronski an Hedwigs Arm, Klein-Marga und Stephan Hand in Hand vor den Schefflers. Der Uhrmacher Laubschad, der alte Herr Heilandt, Meyn, der Trompeter, doch ohne sein Blech und auch einigermaßen nüchtern.

Erst als alles vorbei war und die Leute mit dem Beileid anfingen, bemerkte ich Sigismund Markus.

Schwarz und verlegen schloß er sich all denen an, die Matzerath, mir, meiner Großmutter und den Bronskis die Hand geben, etwas murmeln wollten. Zuerst begriff ich nicht, was Alexander Scheffler vom Markus verlangte. Die kannten sich kaum, wenn sie sich überhaupt kannten. Schließlich sprach auch der Musiker Meyn auf den Spielzeughändler ein. Sie standen hinter einer halbhohen Hecke aus jenem grünen Zeug, das abfärbt und bitter schmeckt, wenn man es zwischen den Fingern reibt. Frau Kater mit ihrer hinter dem Taschentuch feixenden, etwas zu schnell gewachsenen Tochter Susi brachten gerade beim Matzerath ihr Beileid an, ließen es sich nicht nehmen, mir den Kopf zu streicheln. Hinter der Hecke wurde es laut, blieb aber unverständlich. Der Trompeter Meyn tippte dem Markus mit dem Zeigefinger gegen den schwarzen Anzug, schob ihn so vor sich her, nahm den Sigismund links am Arm, während Scheffler sich rechts einhängte. Und beide gaben acht, daß der Markus, der rückwärts ging, nicht über Gräbereinfassungen stolperte, schoben ihn auf die Hauptallee und zeigten dem Sigismund, wo das Friedhofstor war. Der schien sich für die Auskunft zu bedanken und ging Richtung Ausgang, setzte sich auch den Zylinder auf und blickte sich nicht mehr um, obgleich Meyn und der Bäckermeister ihm nachblickten.

Weder Matzerath noch Mutter Truczinski bemerkten, daß ich mich ihnen und dem Beileid entzog. So tuend, als müsse er mal, verdrückte Oskar sich rückwärts am Totengräber und seinem Gehilfen vorbei, lief dann, nahm keine Rücksicht aufs Efeu und erreichte die Ulmen wie auch den Sigismund Markus noch vor dem Ausgang.

»Das Oskarchen!« wunderte sich der Markus, »nu sag, was machen se middem Markus? Was hadder getan, dasse so tun?«

Ich wußte nicht, was Markus getan hatte, nahm ihn bei seiner schweißnassen Hand, führte ihn durchs schmiedeeisern offenstehende Friedhofstor und wir beide, der Hüter meiner Trommeln und ich, der Trommler, womöglich sein Trommler, wir trafen auf Schugger Leo, der gleich uns ans Paradies glaubte.

Markus kannte den Leo, denn Leo war eine stadtbekannte Person. Ich hatte von Schugger Leo gehört, wußte, daß sich dem Leo", da er noch auf dem Priesterseminar war, eines sonnigen Tages die Welt, die Sakramente, die Konfessionen, Himmel und Hölle, Leben und Tod so vollkommen verrückt hatten, daß Leos Weltbild fortan zwar verrückt, aber dennoch vollendet glänzte.

Schugger Leos Beruf war, nach allen Begräbnissen — und er wußte um jede Abdankung — in schwarzblankem, schlotterndem Zeug, mit weißen Handschuhen die Trauergemeinde zu erwarten.

Markus und auch ich begriffen, daß er nun hier, vorm Schmiedeeisen des Brenntauer Friedhofes von Berufs wegen stand und mit beileidbeflissenem Handschuh, verdrehten wasserhellen Augen und immer sabberndem Mund dem Trauergefolge entgegensabberte.

Mitte Mai: ein heiterer, sonniger Tag. Hecken und Bäume mit Vögeln besetzt. Gackernde Hühner, die durch ihre und mit ihren Eiern Unsterblichkeit versinnbildlichten. Gesumm in der Luft.

Frischaufgetragenes Grün ohne Staub. Schugger Leo trug seinen welken Zylinder in der linken behandschuhten Hand, kam leicht, tänzerisch, weil wirklich begnadet, mit fünf vorgestreckten, schimmelnden Handschuhfingern Markus und mir entgegen, stand dann schief und wie im Wind, obgleich kein Lüftchen ging, uns gegenüber, legte den Kopf schräg und lallte, Fäden ziehend, als Markus ihm zuerst zögernd, dann fest seine nackte Hand in den zugreifenden Stoff legte: »Welch ein schöner Tag. Nun ist sie schon dort, wo alles so billig ist. Habt ihr den Herrn gesehen? Habemus ad Dominum. Er ging vorbei und hatte es eilig. Amen.«

Wir sagten Amen und Markus bestätigte Leo den schönen Tag, gab auch vor, den Herrn gesehen zu haben.Hinter uns hörten wir vom Friedhof die näher heransummende Trauergesellschaft. Markus ließ seine Hand aus Leos Handschuh fallen, fand noch Zeit für ein Trinkgeld, gab mir einen Markusblick und ging eilig, schon gehetzt auf das Taxi zu, das vor der Brenntauer Post auf ihn wartete.

Noch sah ich der Staubwolke nach, die den schwindenden Markus verhüllte, da hatte mich Mutter Truczinski schon wieder bei der Hand. Sie kamen in Gruppen und Grüppchen. Schugger Leo sagte allen sein Beileid, machte die Trauergemeinde auf den schönen Tag aufmerksam, fragte jeden, ob er den Herrn gesehen, und erhielt, wie üblich, kleinere, größere oder keine Trinkgelder. Matzerath und Jan Bronski bezahlten die Träger, den Totengräber, den Küster und Hochwürden Wiehnke, der sich von Schugger Leo verlegen seufzend die Hand küssen ließ und mit geküßter Hand der sich langsam zerstreuenden Trauergemeinde segnende Gesten nachschickte.

Wir aber, meine Großmutter, ihr Bruder Vinzent, die Bronskis mit Kindern, Greff ohne Frau und Gretchen Scheffler nahmen Platz in zwei einfach bespannten Kastenwagen. Man fuhr uns an Goldkrug vorbei durch den Wald, über die nahe polnische Grenze nach Bissau-Abbau zum Leichenschmaus.

In einer Kuhle lag Vinzent Bronskis Hof. Pappeln standen davor und sollten die Blitze ablenken. Sie hoben das Scheunentor aus den Angeln, legten es auf Holzböcke, breiteten Tischtücher drüber. Es kamen noch Leute aus der Nachbarschaft. Das Essen brauchte seine Zeit. Wir tafelten in der Scheuneneinfahrt. Gretchen Scheffler hielt mich auf dem Schoß. Fett war das Essen, dann süß, wieder fett, Kartoffelschnaps, Bier, eine Gans und ein Ferkel, Kuchen mit Wurst, Kürbis in Essig und Zucker, Rote Grütze mit saurer Sahne, gegen Abend etwas Wind durch die offene Scheune, Mäuse raschelten, auch die Bronskikinder, die mit den Gören der Nachbarschaft den Hof eroberten.

Mit den Petroleumlampen kamen die Skatkarten auf den Tisch. Der Kartoffelschnaps blieb. Auch gab es Eierlikör, selbstgemacht. Der machte lustig. Und Greff, der nicht trank, sang Lieder. Auch die Kaschuben sangen, und Matzerath gab als erster die Karten aus. Jan war der zweite Mann und der Vorarbeiter von der Ziegelei der dritte. Jetzt erst fiel mir auf, daß meine arme Mama fehlte. Bis in die Nacht hinein wurde gespielt, doch keinem der Männer gelang es, einen Herz Hand zu gewinnen. Als Jan Bronski einen Herz Hand ohne Viern ganz unbegreiflicherweise verlor, hörte ich ihn halblaut zu Matzerath sagen: »Agnes hätte das Spiel sicher gewonnen.«

Da glitt ich von Gretchen Schefflers Schoß, fand draußen meine Großmutter und ihren Bruder Vinzent. Sie saßen auf einer Wagendeichsel. Vinzent sprach halblaut die Sterne auf polnisch an.

Meine Großmutter konnte nicht mehr weinen, ließ mich aber unter ihre Röcke.

Wer nimmt mich heut' unter die Röcke? Wer stellt mir das Tageslicht und das Lampenlicht ab? Wer gibt mir den Geruch jener gelblich zerfließenden, leicht ranzigen Butter, die meine Großmutter mir zur Kost, unter den Röcken stapelte, beherbergte, ablagerte und mir einst zuteilte, damit sie mir anschlug, damit ich Geschmack fand.

Ich schlief ein unter den vier Röcken, war den Anfängen meiner armen Mama ganz nahe und hatte es ähnlich still, wenn auch nicht so atemlos wie sie in ihrem zum Fußende hin verjüngten Kasten.

HERBERT TRUCZINSKIS RÜCKEN

Nichts kann eine Mutter ersetzen, sagt man. Schon bald nach Mamas Begräbnis sollte ich meine arme Mama vermissen lernen. Die Donnerstagbesuche beim Sigismund Markus fielen aus, niemand brachte mich mehr zur weißen Berufskleidung der Schwester Inge, besonders die Sonnabende machten mir Mamas Tod schmerzhaft deutlich: Mama ging nicht mehr zur Beichte.

Es blieben mir also die Altstadt fern, die Praxis des Dr. Hollatz, die Herz-Jesu-Kirche. Die Lust an Kundgebungen hatte ich verloren. Wie sollte ich Passanten vor Schaufenstern verlocken können, wenn selbst der Beruf des Versuchers Oskar schal und reizlos geworden war? Es gab keine Mama mehr, die mich ins Stadttheater zum Weihnachtsmärchen, in den Zirkus Krone oder Busch mitgenommen hätte.

Pünktlich allein, doch zugleich mürrisch, ging ich meinen Studien nach, ödete mich durch die gradlinigen Vorstadtstraßen zum Kleinhammerweg, besuchte das Gretchen Scheffler, das mir von KdF-Reisen ins Land der Mitternachtssonne erzählte, während ich unentwegt Goethe mit Rasputin verglich, bei diesen Vergleichen nie ein Ende fand und mich dem strahlend düsteren Kreislauf zumeist durch historische Studien entzog. Ein Kampf um Rom, Kaisers Geschichte der Stadt Danzig und Köhlers Flottenkalender, meine alten Standardwerke gaben mir ein weltumfassendes Halbwissen'. So bin ich heute noch in der Lage, Ihnen genaue Angaben über Panzerstärke, Bestückung, Stapellauf, Fertigstellung, Mannschaftssoll aller Schiffe zu machen, die sich an der Seeschlacht im Skagerrak beteiligten, dort sanken oder beschädigt wurden.

Vierzehn war ich bald, liebte die Einsamkeit und ging viel spazieren. Meine Trommel ging mit, doch zeigte ich mich sparsam auf dem Blech, weil durch Mamas Abgang eine rechtzeitige Belieferung mit Blechtrommeln fraglich war und auch blieb.

War es im Herbst siebenunddreißig oder im Frühjahr achtunddreißig? Auf jeden Fall trippelte ich die Hindenburgallee hoch, in Richtung Stadt, befand mich etwa auf Höhe des Cafés Vier Jahreszeiten, die Blätter fielen ab, oder es platzten die Knospen, auf jeden Fall tat sich etwas in der Natur; da traf ich meinen Freund und Mai-ster Bebra, der in direkter Linie vom Prinzen Eugen, also von Ludwig dem Vierzehnten abstammte.

Drei Jahre lang hatten wir uns nicht gesehen und erkannten uns dennoch auf zwanzig Schritte. Er war nicht alleine, an seinem Arm hielt sich zierlich, südländisch, vielleicht zwei Zentimeter kleiner als Bebra, drei Fingerfertig größer als ich, eine Schönheit, die er mir bei der Vorstellung als Roswitha Raguna, die berühmteste Somnambule Italiens, bekannt machte.

Bebra bat mich zu einer Tasse Mokka ins Cafe Vierjahreszeiten. Wir setzten uns ins Aquarium und die Kaffeetanten zischelten: »Guck ma die Liliputaner, Lisbeth, hasse die gesehn? Ob die im Krone auftreten? Da müssen wä hingehen womeglich.«

Bebra lächelte mich an und zeigte tausend feine, kaum sichtbare . Fältchen.

Der Kellner, der uns den Mokka brachte, war sehr groß. Als Frau Roswitha bei ihm ein Törtchen bestellte, blickte sie an dem Befrackten wie an einem Turm hoch.

Bebra beobachtete mich: »Es scheint ihm nicht gut zu gehen, unserem Glastöter. Wo fehlt es, mein Freund? Will das Glas nicht mehr oder mangelt's an Stimme?«

Jung und ungestüm wie ich war, wollte Oskar sofort ein Pröb-chen seiner noch immer unverwelkten Kunst geben. Suchend blickte ich mich um, fixierte schon die große Glasfläche vor den Zierfischen und Unterwasserpflanzen des Aquariums, da sprach Bebra, bevor ich sang: »Nicht doch, mein Freund!

Wir glauben Ihnen auch so. Keine Zerstörungen bitte, Überschwemmungen, kein Fischsterben!«

Beschämt entschuldigte ich mich vor allen Dingen bei Signora Roswitha, die einen Miniaturfächer hervorgezogen hatte und aufgeregt Wind machte.

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