Die Blechtrommel (32 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Ohne erst lange erklären zu müssen, wollte ich mit großem Schlag und Aufschrei des Bleches meine hoffnungslose Lage deutlich machen, sagte mir: Noch fünf Straßenbahnen, noch drei, noch diese Bahn, stellte mir, Schrecken an die Wand malend, vor, daß die Bronskis auf Jans Wunsch hin nach Modlin oder Warschau versetzt worden waren, sah ihn als Oberpostsekretär in Bromberg oder Thorn, wartete, alle vorherigen Schwüre brechend, noch eine Straßenbahn ab und drehte mich schon in Richtung Heimweg, da wurde Oskar von hinten gefaßt, ein Erwachsener hielt seine Augen zu.

Ich spürte weiche, nach ausgesuchter Seife riechende, angenehm trockene Männerhände; ich spürte Jan Bronski.

Als er mich losließ und auffallend laut lachend gegen sich drehte, war es zu spät, um auf dem Blech meine fatale Lage demonstrieren zu können. Beide Trommelstöcke versorgte ich deshalb gleichzeitig hinter den leinernen Trägern meiner halblangen, in jener Zeit, da niemand mir Sorge trug, schmutzigen und an den Taschen ausgefransten Kniehosen. Die Hände frei, hob ich sodann die an jämmerlichem Bindfaden hängende Trommel hoch, anklagend hoch, über Augenhöhe hoch, hoch, wie Hochwürden Wiehnke während der Messe die Hostie hob, hätte auch sagen können: das ist mein Fleisch und Blut, sagte aber kein Wörtchen, hob das geschundene Metall nur hoch, wollte auch keine grundlegende, womöglich wunderbare Wandlung; die Reparatur meiner Trommel forderte ich, sonst nichts.

Jan unterbrach sofort sein unangebrachtes und, wie ich heraushören konnte, nervös angestrengtes Gelächter. Er erblickte, was nicht zu übersehen war, meine Trommel, löste den Blick vom zerknüllten Blech, suchte meine blanken, immer noch echt wirkenden dreijährigen Augen, sah zuerst nichts, als zweimal dieselbe nichtssagend blaue Iris, Glanzlichter darin, Spiegelungen, all das, was man dem Auge an Ausdruck andichtet, nahm schließlich, nachdem er feststellen mußte, daß sich mein Blick in nichts von einer x-beliebigen spiegelfreudigen Straßenpfütze unterschied, all seinen guten Willen, gerade Greifbares in seinem Gedächtnis zusammen und zwang sich, in meinem Augenpaar, jenen zwar grauen, aber ähnlich geschnittenen Blick meiner Mama wiederzufinden, der ihm ja immerhin etliche Jahre lang Wohlwollen bis Leidenschaft gespiegelt hatte. Vielleicht aber verblüffte ihn auch der Abglanz seiner selbst, was immer noch nicht zu bedeuten hatte, daß Jan mein Vater, genauer gesagt, mein Erzeuger war. Denn seine, Mamas wie auch meine Augen zeichneten sich durch die gleiche naiv verschlagene, strahlend dümmliche Schönheit aus, die nahezu allen Bronskis, so auch Stephan, weniger Marga Bronski, um so mehr aber meiner Großmutter und ihrem Bruder Vinzent zu Gesicht stand. Mir jedoch war bei aller schwarzbewimperten Blauäugigkeit ein Schuß Koljaiczeksches Brandstifterblut — man denke nur an mein Glaszersingen — nicht abzusprechen, während es Mühe gekostet hätte, mir rheinisch-matzerathsche Züge anzudichten.

Jan selbst, der gerne auswich, hätte in jenem Moment, da ich die Trommel hob und die Augen wirken ließ, direkt befragt, zugeben müssen: es blickt mich seine Mutter Agnes an. Vielleicht blicke ich selbst mich an. Seine Mutter und ich, wir hatten viel zu viel Gemeinsames. Es mag aber auch sein, daß mich mein Onkel Koljaiczek anblickt, der in Amerika ist oder auf dem Meeresgrund. Nur Matzerath blickt mich nicht an, und das ist gut so.

Jan nahm mir die Trommel ab, drehte, beklopfte sie. Er, der Unpraktische, der nicht einen Bleistift ordentlich anspitzen konnte, tat so, als verstünde er etwas von der Reparatur einer Blechtrommel, faßte sichtbar einen Entschluß, was selten bei ihm vorkam, nahm mich bei der Hand — was mir auffiel, denn so eilig wäre es nicht gewesen — überquerte mit mir die Ringstraße, fand mit mir an der Hand die Insel der Straßenbahnhaltestelle Heeresanger und stieg, als die Bahn ankam, mich nachziehend in den Anhänger für Raucher der Linie Fünf.

Oskar ahnte es, wir fuhren in die Stadt, wollten zum Heveliusplatz, in die Polnische Post zum Hausmeister Kobyella, der jenes Werkzeug und Können hatte, nach welchem Oskars Trommel seit Wochen verlangte.

Es hätte diese Straßenbahnfahrt zu einer ungestörten Freudenfahrt werden können, wäre es nicht der Vorabend des ersten September neununddreißig gewesen, an dem sich der Triebwagen mit Anhänger der Linie Fünf, vom Max-Halbe-Platz an vollbesetzt mit müden und dennoch lauten Badegästen des Seebades Brösen, in Richtung Stadt klingelte. Welch ein Spätsommerabend hätte uns nach Abgabe der Trommel im Cafe Weitzke hinter Limonade mit Strohhalmen gewinkt, wenn nicht in der Hafeneinfahrt, gegenüber der Westerplatte, die beiden Linienschiffe »Schlesien« und »Schleswig-Holstein« festgemacht und der roten Backsteinmauer mit darunterliegendem Munitionsbecken ihre Stahlrümpfe, drehbaren Doppeltürme und Kasemattengeschütze gezeigt hätten. Wie schön wäre es gewesen, an der Pförtnerwohnung der Polnischen Post klingeln und eine harmlose Kinderblechtrommel dem Hausmeister Kobyella zur Reparatur anvertrauen zu können, wenn das Innere der Post nicht schon seit Monaten mit Panzerplatten in Verteidigungszustand versetzt, ein bislang harmloses Postpersonal, Beamte, Briefträger, während Wochenendschulungen in Gdingen und Oxhöft in eine Festungsbesatzung verwandelt worden wäre.

Wir näherten uns dem Olivaer Tor. Jan Bronski schwitzte, starrte in das staubige Grün der Hindenburgalleebäume und rauchte mehr von seinen Goldmundstückzigaretten, als es ihm seine Sparsamkeit hätte erlauben dürfen. Oskar hatte seinen mutmaßlichen Vater noch nie so schwitzen sehen, ausgenommen die zwei-oder dreimal, da er ihn mit seiner Mama auf der Chaiselongue beobachtet hatte.

Meine arme Mama aber war schon lange tot. Warum schwitzte Jan Bronski? Nachdem ich bemerken mußte, daß ihn kurz vor Erreichen fast jeder Haltestelle die Lust ankam, auszusteigen, daß ihm jedesmal erst im Augenblick des Aussteigenwollens meine Gegenwart bewußt wurde, daß ich und meine Trommel ihn veranlaßten, wieder Platz zu nehmen, wurde mir klar, daß der Polnischen Post wegen geschwitzt wurde, die Jan als Staatsbeamter zu verteidigen hatte. Er war doch schon einmal davongelaufen, hatte dann mich und meine Schrottrommel an der Ringstraße, Ecke Heeresanger entdeckt, die Umkehr zur Beamtenpflicht beschlossen, schleppte mich, der ich weder Beamter war noch zur Verteidigung eines Postgebäudes taugte, mit sich und schwitzte und rauchte dabei. Warum stieg er nicht noch einmal aus? Ich hätte ihn gewiß nicht gehindert. Er war ja noch in den besten Jahren, noch keine fünfundvierzig. Blau war sein Auge, braun sein Haar, gepflegt zitterten seine Hände, und hätte er nicht so erbärmlich schwitzen müssen, wäre es Kölnisch Wasser gewesen und nicht kalter Schweiß, den Oskar, neben seinem mutmaßlichen Vater sitzend, riechen mußte.

Am Holzmarkt stiegen wir aus und gingen zu Fuß den Altstädtischen Graben hinunter. Ein windstiller Nachsommerabend. Die Glocken der Altstadt bronzierten wie immer gegen acht Uhr den Himmel.

Glockenspiele, die Tauben aufwölken ließen: »Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab.« Das klang schön und war zum Weinen. Aber überall wurde gelacht. Frauen mit sonnengebräunten Kindern, flauschigen Bademänteln, bunten Strandbällen und Segelschiffen stiegen aus Straßenbahnen, die von den Seebädern Glettkau und Heubude tausend Frischgebadete brachten.

Junge Mädchen leckten mit beweglichen Zungen unter noch verschlafenen Blicken Himbeereis. Eine Fünfzehnjährige ließ ihre Eiswaffel fallen, wollte sich schon bücken, den Schmand wieder aufheben, da zögerte sie, überließ dem Pflaster und den Schuhsohlen künftiger Passanten die zerfließende Erfrischung; bald würde sie zu den Erwachsenen gehören und Eis nicht mehr auf der Straße lecken.

An der Schneidermühlengasse bogen wir links ein. Der Heveliusplatz, in den die Gasse mündete, wurde von gruppenweise herumstehenden Leuten der SS-Heimwehr gesperrt: junge Burschen, auch Familienväter mit Armbinden und den Karabinern der Schutzpolizei. Es wäre leicht gewesen, diese Sperre, einen Umweg machend, zu umgehen, um vom Rähm aus die Post zu erreichen Jan Bronski ging auf die Heimwehrleute zu. Die Absicht war deutlich: er wollte aufgehalten, unter den Augen seiner Vorgesetzten, die sicherlich vom Postgebäude aus den Heveliusplatz beobachten Ließen, zurückgeschickt werden, um so, als abgewiesener Held, eine halbwegs rühmliche Figur machend, mit derselben Straßenbahn Linie Fünf, die ihn hergebracht hatte, nach Hause fahren zu dürfen.

Die Heimwehrleute ließen uns durch, dachten wahrscheinlich gar nicht daran, daß jener gutgekleidete Herr mit dem dreijährigen Jungen an der Hand ins Postgebäude zu gehen gedachte. Vorsicht rieten sie uns höflich an und schrien erst Halt, als wir schon durch das Gitterportal hindurch waren und vor dem Hauptportal standen. Jan drehte sich unsicher. Da wurde die schwere Tür einen Spalt weit geöffnet, man zog uns hinein: wir standen in der halbdunklen, angenehm kühlen Schalterhalle der Polnischen Post.

Jan Bronski wurde von seinen Leuten nicht gerade freundlich begrüßt. Sie mißtrauten ihm, hatten ihn wohl schon aufgegeben, gaben auch laut zu, daß der Verdacht bestanden habe, er, der Postsekretär Bronski, wolle sich verdrücken. Jan hatte Mühe, die Anschuldigungen zurückzuweisen. Man hörte gar nicht zu, schob ihn in eine Reihe, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Sandsäcke aus dem Keller hinter die Fensterfront der Schalterhalle zu befördern. Diese Sandsäcke und ähnlichen Unsinn stapelte man vor den Fenstern, schob schwere Möbel wie Aktenschränke in die Nähe des Hauptportals, um das Tor in seiner ganzen Breite notfalls schnell verbarrikadieren zu können.

Jemand wollte wissen, wer ich sei, hatte dann aber keine Zeit, auf Jans Antwort warten zu können. Die Leute waren nervös, redeten bald laut, bald übervorsichtig leise. Meine Trommel und die Not meiner Trommel schien vergessen zu sein. Der Hausmeister Kobyella, auf den ich gesetzt hatte, der jenem Haufen Schrott vor meinem Bauch wieder zu Ansehen verhelfen sollte, blieb unsichtbar und stapelte wahrscheinlich in der ersten oder zweiten Etage des Postgebäudes, ähnlich fieberhaft wie die Briefträger und Schalterbeamten in der Halle, pralle Sandsäcke, die kugelsicher sein sollten. Oskars Anwesenheit war Jan Bronski peinlich. So verdrückte ich mich augenblicklich, als Jan von einem Mann, den die anderen Doktor Michon nannten, Instruktionen erhielt. Nach einigem Suchen und vorsichtigem Umgehen jenes Herrn Michon, der einen polnischen Stahlhelm trug und offensichtlich der Direktor der Post war, fand ich die Treppe zum ersten Stockwerk und dort, ziemlich am Ende des Ganges, einen mittelgroßen, fensterlosen Raum, in dem sich keine Munitionskisten schleppende Männer befanden, keine Sandsäcke stapelten.

Rollbare Wäschekörbe voller buntfrankierter Briefe standen dichtgedrängt auf den Dielen. Das Zimmer war niedrig, die Tapete ockerfarben. Leicht roch es nach Gummi. Eine Glühbirne brannte ungeschützt. Oskar war zu müde, den Lichtschalter zu suchen. Ganz fern mahnten die Glocken von Sankt Marien, Sankt Katharinen, Sankt Johann, Sankt Brigitten, Sankt Barbara, Trinitatis und Heiliger Leichnam: Es ist neun Uhr, Oskar, du mußt schlafen gehen! — Und so legte ich mich in einen der Briefkörbe, bettete die gleichfalls erschöpfte Trommel an meiner Seite und schlief ein.

DIE POLNISCHE POST

Ich schlief in einem Wäschekorb voller Briefe, die nach Lodz, Lublin, Lwów, Toru , Krakow und Cz stochowa hinwollten, die von Lodz, Lublin, Lemberg, Thorn, Krakau und Tschenstochau herkamen. Ich träumte aber weder von der Matka Boska Cz stochowska noch von der schwarzen Madonna, knabberte weder träumend an Marsza ek Pilsudskis in Krakau aufbewahrtem Herzen noch an jenen Lebkuchen, die die Stadt Thorn so berühmt gemacht haben. Nicht einmal von meiner immer noch nicht reparierten Trommel träumte ich. Traumlos auf Briefen in rollbarem Wäschekorb liegend, vernahm Oskar nichts von jenem Wispern, Zischeln, Plaudern, von jenen Indiskretionen, die angeblich laut werden sollen, wenn viele Briefe auf einem Haufen liegen. Mir sagten die Briefe kein Wörtchen, ich hatte keine Post zu erwarten, niemand durfte in mir einen Empfänger oder gar Absender sehen.

Selbstherrlich schlief ich mit eingezogener Antenne auf einem Berg Post, der nachrichtenträchtig die Welt hätte bedeuten können.

So weckte mich verständlicherweise nicht jener Brief, den irgendein Pan Lech Milewczyk aus Warschau seiner Nichte in Danzig-Schidlitz schrieb, ein Brief also, alarmierend genug, um eine tausendjährige Schildkröte wecken zu können; mich weckte entweder nahes Maschinengewehrfeuer oder die fernen, nachgrollenden Salven aus den Doppeltürmen der Linienschiffe im Freihafen.

Das schreibt sich so leicht hin: Maschinengewehre, Doppeltürme. Hätte es nicht auch ein Platzregen, Hagelschauer, der Aufmarsch eines spätsommerlichen Gewitters, ähnlich jenem Gewitter anläßlich meiner Geburt, sein können? Ich war zu verschlafen, derlei Spekulationen nicht mächtig und folgerte, noch die Geräusche im Ohr bewahrend, treffend und wie alle Verschlafenen die Situation direkt beim Namen nennend: Jetzt schießen sie!

Kaum aus dem Wäschekorb geklettert, noch unsicher in den Sandalen stehend, besorgte Oskar sich um das Wohl seiner empfindlichen Trommel. Mit beiden Händen grub er jenem Korb, der seinen Schlaf beherbergt hatte, ein Loch in den zwar locker, aber verschachtelt geschichteten Briefen, ging jedoch nicht brutal vor, indem er zerriß, knickte und gar entwertete; nein, vorsichtig löste ich die miteinander verfilzte Post, trug jedem der zumeist violetten, mit dem»Poczta Polska« Stempel bedachten Briefe, sogar Postkarten Sorge, gab acht, daß sich kein Kuvert öffnete; denn selbst angesichts unabwendbarer, alles ändernder Ereignisse sollte das Postgeheimnis immer gewahrt bleiben.

Im selben Maße, wie das Maschinengewehrfeuer zunahm, weitete sich der Trichter in jenem Wäschekorb voller Briefe. Endlich ließ ich es genug sein, bettete meine todkranke Trommel in dem frisch aufgeworfenen Lager, bedeckte sie dicht, nicht nur dreifach, nein, zehn-bis zwanzigfach auf ähnliche Art verzahnt mit den Umschlägen, wie Maurer Ziegel fügen, wenn es gilt, eine stabile Wand zu errichten.

Kaum hatte ich diese Vorsichtsmaßnahme, von der ich mir Splitter-und Kugelschutz für mein Blech erhoffen durfte, beendet, als an der Fassade, die das Postgebäude zum Heveliusplatz hin begrenzte, etwa in Höhe der Schalterhalle die erste Panzerabwehrgranate detonierte.

Die Polnische Post, ein massiver Ziegelbau, durfte getrost eine Anzahl dieser Einschläge hinnehmen, ohne befürchten zu müssen, daß es den Leuten der flteimwehr gelänge, kurzes Spiel zu machen, schnell eine Bresche zu schlagen, breit genug für einen frontalen, oft exerzierten Sturmangriff.

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