Die Blechtrommel (61 page)

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Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Wo wir vorbeifuhren, hörte das Spiel für Sekunden auf. Einige mit Frauenwäsche über der Uniform halfen uns schieben, wollten auch nach Maria greifen, wurden aber von Herrn Fajngold, der Russisch sprach und einen Ausweis hatte, zurechtgewiesen. Ein Soldat mit Damenhut schenkte uns einen Vogelbauer mit einem lebenden Wellensittich auf der Stange. Das Kurtchen, das neben dem Wagen hüpfte, wollte die bunten Federn sogleich greifen und ausreißen. Maria, die das Geschenk nicht zurückzuweisen wagte, hob den Käfig aus Kurtchens Reichweite zu mir auf den Tafelwagen. Oskar, dem der Wellensittich zu bunt war, stellte den Käfig mit Vogel auf Matzeraths vergrößerte Margarinekiste. Ganz hinten saß ich, ließ die Beine baumeln und blickte in das Gesicht des Herrn Fajngold, das faltig, nachdenklich bis grämlich den Eindruck erweckte, der Herr überprüfe hinter der Stirn eine komplizierte Rechnung, die ihm nicht aufgehen wollte.

Ich schlug ein bißchen auf mein Blech, machte es heiter, wollte die trüben Gedanken des Herrn Fajngold verscheuchen. Aber er bewahrte sich seine Falten, hatte seinen Blick ich weiß nicht wo, womöglich im fernen Galizien; nur meine Trommel sah er nicht. Da gab Oskar es auf, ließ nur noch die Räder des Handwagens und Marias Weinen laut werden.

Welch ein milder Winter, dachte ich, als wir die letzten Langfuhrer Häuser hinter uns hatten, nahm auch einige Notiz von dem Wellensittich, der sich angesichts jener nachmittäglich über dem Flugplatz stehenden Sonne plusterte.

Das Flugfeld war bewacht, die Straße nach Brösen gesperrt. Ein Offizier sprach mit dem Herrn Fajngold, der während der Unterredung den Zylinderhut zwischen gespreizten Fingern hielt und dünnes, rotblond wehendes Haar zeigte. Kurz und wie prüfend an Matzeraths Kiste klopfend, den Wellensittich mit dem Finger neckend, ließ der Offizier uns passieren, gab aber zwei höchstens sechzehnjährige Burschen mit zu kleinen Käppis und zu großen Maschinenpistolen als Bewachung oder Begleitung mit.

Der alte Heilandt zog, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Auch verstand er es, Zigaretten während des Ziehens, ohne den Wagen bremsen zu müssen, mit einer Hand anzuzünden. In der Luft hingen Flugzeuge. Man hörte die Motoren so deutlich, weil es Ende Februar, Anfang März war. Nur bei der Sonne hielten sich einige Wölkchen auf und verfärbten sich nach und nach. Die Bomber flogen gen Hela oder kamen von der Halbinsel Hela zurück, weil dort noch Reste der zweiten Armee kämpften.

Mich machten Wetter und Flugzeuggebrumm traurig. Es gibt nichts Langweiligeres, den Überdruß mehr Förderndes als ein wolkenloser Märzhimmel voller bald laut, bald ersterbend brummender Flugzeuge. Dazu kam, daß die beiden Jungrussen sich während des ganzen Weges vergeblich Mühe gaben, Gleichschritt zu halten.

Vielleicht hatten sich einige Bretter der schnellgezimmerten Kiste während der Fahrt, erst über Kopfsteinpflaster, dann über Asphalt mit Schlaglöchern gelockert, auch fuhren wir gegen den Wind; jedenfalls roch es nach totem Matzerath, und Oskar war froh, als wir den Friedhof Saspe erreichten.

Wir konnten nicht bis auf die Höhe des schmiedeeisernen Gitters heranfahren, da ein quergestellter, ausgebrannter T34 die Straße kurz vor dem Friedhof sperrte. Andere Panzer hatten auf dem Marsch in Richtung Neufahrwasser einen Umweg machen müssen, hatten ihre Spuren im Sand links von der Straße hinterlassen und einen Teil der Friedhofsmauer niedergewalzt. Herr Fajngold bat den alten Heilandt, hinten zu gehen. Sie trugen den Sarg, der sich leicht in der Mitte bog, den Panzerspuren nach, dann mühevoll über das Geröll der Friedhofsmauer und mit letzter Kraft ein Stück zwischen gestürzte und auf der Kippe stehende Grabsteine. Der alte Heilandt saugte süchtig an seiner Zigarette und stieß den Rauch gegen das Sargende. Ich trug den Käfig mit dem Wellensittich auf der Stange.

Maria zog zwei Schaufeln hinter sich her. Kurtchen trug eine Kreuzhacke, das heißt, er schwang sie um sich, schlug auf dem Friedhof, sich in Gefahr bringend, gegen den grauen Granit, bis Maria ihm die Hacke wegnahm, um, kräftig wie sie war, den beiden Männern beim Graben zu helfen.

Wie gut, daß der Boden hier sandig und nicht gefroren ist, stellte ich fest und suchte hinter der nördlichen Mauer Jan Bronskis Stelle. Hier oder da mochte es gewesen sein. Genaues ließ sich nicht mehr feststellen, da die wechselnden Jahreszeiten den ehemaligen verräterisch frischen Kalkanstrich grau und mürbe wie alles Mauerwerk auf Saspe gemacht hatten.

Durch die hintere Gittertür fand ich wieder zurück, schickte den Blick an den Krüppelkiefern hoch und dachte, um nichts Belangloses denken zu müssen: nun begraben sie auch den Matzerath. Auchsuchte und fand ich teilweise einen Sinn in dem Umstand, daß hier unter demselben Sandboden die beiden Skatbrüder Bronski und Matzerath, wenn auch ohne meine arme Mama liegen sollten.

Begräbnisse erinnern immer an andere Begräbnisse!

Der Sandboden wollte bewältigt werden, verlangte wohl geübtere Totengräber. Maria machte eine Pause, hielt sich schwer atmend an der Spitzhacke und begann wieder zu weinen, als sie das Kurtchen sah, das auf weite Distanz mit Steinen nach dem Wellensittich im Käfig warf. Kurtchen traf nicht, warf zu weit, Maria weinte kräftig und echt, weil sie den Matzerath verloren hatte, weil sie in dem Matzerath etwas gesehen hatte, was er, meiner Meinung nach, kaum darstellte, was ihr aber fortan dennoch deutlich und liebenswert bleiben sollte. Trost sprechend benutzte Herr Fajngold die Gelegenheit für eine Pause, denn das Graben setzte ihm zu. Der alte Heilandt schien Gold zu suchen, so gleichmäßig führte er die Schaufel, warf den Aushub hinter sich und stieß auch den Zigarettenrauch in bemessenen Abständen aus. Etwas entfernt saßen die beiden Jungrussen auf der Friedhofsmauer und schwatzten gegen den Wind. Dazu Flugzeuge und eine Sonne, die immer reifer wurde.

Sie mochten einen Meter tief gegraben haben, und Oskar stand müßig und ratlos zwischen altem Granit, zwischen Krüppelkiefern, zwischen der Witwe Matzeraths und einem Kurtchen, das nach dem Wellensittich warf.

Soll ich oder soll ich nicht? Du bist im einundzwanzigsten Lebensjahr, Oskar. Sollst du oder sollst du nicht? Ein Waisenkind bist du. Du solltest endlich. Seit deine arme Mama nicht mehr ist, bist du eine Halbwaise. Schon damals hättest du dich entscheiden sollen. Dann legten sie deinen mutmaßlichen Vater Jan Bronski dicht unter die Erdkruste. Mutmaßliche Vollwaise warst du, standest hier, auf diesem Sand, der Saspe heißt, und hieltest eine leicht oxydierte Patronenhülse. Es regnete und eine Ju 52 setzte zur Landung an. Wurde nicht schon damals, wenn nicht im Regengeräusch, dann im Gedröhn der landenden Transportmaschine dieses »Soll ich, soll ich nicht« deutlich? Du sagtest dir, das ist der Regen, und das sind Motorengeräusche; derlei Monotonie kann man jeden Text unterschieben. Du wolltest es noch deutlicher haben und nicht nur mutmaßlich.

Soll ich oder soll ich nicht? Jetzt machen sie ein Loch für Matzerath, deinen zweiten mutmaßlichen Vater. Mehr mutmaßliche Väter gibt es deines Wissens nach nicht. Warum jonglierst du dennoch mit zwei glasgrünen Flaschen: soll ich, soll ich nicht? Wen willst du noch befragen? Die Krüppelkiefern, die sich selbst fragwürdig sind?

Da fand ich ein mageres gußeisernes Kreuz mit mürben Schnörkeln und verkrusteten Buchstaben wie: Mathilde Kunkel — oder Runkel. Da fand ich — soll ich oder soll ich nicht — im Sand zwischen Disteln und Strandhafer — soll ich — drei oder vier — soll ich nicht — tellergroße, bröckelnd rostige Metallkränze, die vormals — soll ich — vielleicht Eichenlaub oder Lorbeer dargestellt hatten — soll ich etwa nicht — wog die in der Hand — soll ich etwa doch — zielte — soll ich — das überragende Kreuzende — oder nicht — hatte einen Durchmesser von — soll ich — vielleicht vier Zentimetern — nicht — einen Abstand von zwei Metern befahl ich mir — soll ich — und warf — nicht — daneben — soll ich abermals — zu schief stand das Eisenkreuz — soll ich — Mathilde Kunkel oder hieß sie Runkel — soll ich Runkel, soll ich Kunkel — das war der sechste Wurf und sieben gestand ich mir zu und sollte sechsmal nicht und warf sieben — sollte, hing ihn über — bekränzte Mathilde — sollte — Lorbeer für Fräulein Kunkel — soll ich? fragte ich die junge Frau Runkel — ja, sagte Mathilde; sie starb sehr früh, im Alter von siebenundzwanzig Jahren und achtundsechzig geboren. Ich aber stand im einundzwanzigsten Lebensjahr, als mir der Wurf beim siebenten Versuch glückte, als ich jenes —

»Soll ich, soll ich nicht?« — in ein bewiesenes, bekränztes, gezieltes, gewonnenes »Ich soll!« vereinfachte.

Und als Oskar mit dem neuen »Ich soll!« auf der Zunge und »Ich soll!« im Herzen zu den Totengräbern hinstrebte, da knarrte der Wellensittich, weil Kurtchen ihn getroffen hatte, und ließ blaugelbe Federn. Ich fragte mich, welche Fragestellung wohl meinen Sohn bewogen haben mochte, so lange mit kleinen Steinen nach einem Wellensittich zu werfen, bis ihm ein letzter Treffer Antwort gab.

Sie hatten die Kiste neben das etwa einszwanzig tiefe Grab geschoben. Der alte Heilandt hatte es eilig, mußte aber warten, weil Maria katholisch betete, weil der Herr Fajngold den Zylinder vor der Brust hielt und mit den Augen in Galizien war. Auch Kurtchen kam jetzt näher heran. Wahrscheinlich hatte er nach seinem Treffer einen Entschluß gefaßt und näherte sich aus diesen oder jenen Gründen, doch ähnlich entschlossen wie Oskar, dem Grab.

Mich quälte diese Ungewißheit. War es doch mein Sohn, der sich für oder gegen etwas entschieden hatte. Hatte er sich entschlossen, nun endlich in mir den einzig wahren Vater zu erkennen und zu lieben? Entschloß er sich etwa jetzt, da es zu spät war, zur Blechtrommel? Oder hieß sein Entschluß: Tod meinem mutmaßlichen Vater Oskar, der meinen mutmaßlichen Vater Matzerath nur deshalb mit einem Parteiabzeichen tötete, weil er die Väter satt hatte? Konnte auch er kindliche Zuneigung, wie sie zwischen Vätern und Söhnen erstrebenswert sein sollte, nicht anders als im Totschlag äußern?

Während der alte Heilandt die Kiste mit Matzerath und dem Parteiabzeichen in Matzeraths Luftröhre, mit der Munition einer russischen Maschinenpistole in Matzeraths Bauch mehr ins Grab stürzte als hinabließ, gestand Oskar sich ein, daß er Matzerath vorsätzlich getötet hatte, weil jener aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur sein mutmaßlicher, sondern sein wirklicher Vater war; auch weil er es satt hatte, sein Leben lang einen Vater mit sich herumschleppen zu müssen.So stimmte es auch nicht, daß die Nadel des Parteiabzeichens schon offen war, als ich mir den Bonbon vom Betonfußboden klaubte. Aufgemacht wurde die Nadel erst in meiner geschlossenen Hand. Sperrig und stechend gab ich den klebenden Bonbon an Matzerath ab, damit sie den Orden bei ihm finden konnten, damit er sich die Partei auf die Zunge legte, damit er daran erstickte — an der Partei, an mir, an seinem Sohn; denn das mußte ein Ende haben!

Der alte Heilandt begann zu schaufeln. Das Kurtchen half ihm ungeschickt, doch eifrig dabei. Ich habe Matzerath nie geliebt. Manchmal mochte ich ihn. Er sorgte für mich mehr als Koch denn als Vater. Er war ein guter Koch. Wenn ich heute Matzerath manchmal vermisse, sind es seine Königsberger Klopse, seine sauren Schweinenieren, sein Karpfen mit Rettich und Sahne, seine Gerichte wie: Aalsuppe mit Grün, Kassler Rippchen mit Sauerkraut und all seine unvergeßlichen Sonntagsbraten, die ich noch immer auf der Zunge und zwischen den Zähnen habe. Man hatte vergessen, ihm, der Gefühle in Suppen verwandelte, einen Kochlöffel in den Sarg zu legen. Man hatte vergessen, ihm ein Spiel Skatkarten in den Sarg zu legen. Er kochte besser, als er Skat spielte. Dennoch spielte er besser als Jan Bronski und fast so gut wie meine arme Mama. Das war sein Vermögen, das war seine Tragik.

Maria habe ich ihm nie verzeihen können, obgleich er sie gut behandelt, nie geschlagen und meistens nachgegeben hatte, wenn sie einen Streit vom Zaune brach. Auch gab er mich nicht ans Reichsgesundheitsministerium ab und unterschrieb den Brief erst, als keine Post mehr ausgetragen wurde. Bei meiner Geburt unter den Glühbirnen bestimmte er mich fürs Geschäft. Um nicht hinter dem Ladentisch stehen zu müssen, stellte sich Oskar über siebzehn Jahre lang hinter ungefähr hundert weißrot gelackte Blechtrommeln. Jetzt lag Matzerath und konnte nicht mehr stehen. Der alte Heilandt schippte ihn zu und rauchte dabei Matzeraths Derbyzigaretten. Oskar hätte jetzt das Geschäft übernehmen sollen. Aber inzwischen hatte Herr Fajngold mit seiner vielköpfigen unsichtbaren Familie das Geschäft übernommen. Der Rest fiel mir zu: Maria, Kurtchen und die Verantwortung für alle beide.

Maria weinte und betete immer noch echt und katholisch. Herr Fajngold weilte in Galizien oder löste knifflige Rechenaufgaben. Kurtchen ermüdete, schaufelte aber unentwegt. Auf der Friedhofsmauer saßen die schwatzenden Jungrussen. Gleichmäßig mürrisch kippte der alte Heilandt den Sand des Friedhofes Saspe auf die Margarinekistenbretter. Drei Buchstaben des Wortes Vitello konnte Oskar noch lesen, da nahm er sich das Blech vom Hals, sagte nicht mehr »Soll ich oder soll ich nicht?« sondern »Es muß sein!« und warf die Trommel dorthin, wo schon genügend Sand auf dem Sarg lag, damit es nicht so polterte. Ich gab auch die Stöcke dazu. Die blieben im Sand stecken. Das war meine Trommel aus der Stäuberzeit. Aus dem Fronttheatervorrat stammte sie. Bebra schenkte mir die Bleche.

Wie mochte der Meister mein Handeln beurteilen? Jesus hatte auf dem Blech getrommelt und ein kastenförmiger, großporiger Russe. Viel war nicht mehr mit ihr los. Aber als ein Wurf Sand ihre Fläche traf, gab sie Laut. Und beim zweiten Wurf gab sie noch etwas Laut. Und beim dritten Wurf gab sie keinen Laut mehr von sich, zeigte nur noch etwas weißen Lack, bis der Sand auch das gleichmachte mit anderem Sand, mit immer mehr Sand, es vermehrte sich der Sand auf meiner Trommel, häufte sich, wuchs — und auch ich begann zu wachsen, was sich durch heftiges Nasenbluten anzeigte.

Kurtchen bemerkte das Blut zuerst. »Er blutet, blutet!« schrie er und rief den Herrn Fajngold aus Galizien zurück, zog Maria aus dem Gebet, zwang selbst die beiden Jungrussen, die immer noch auf der Mauer saßen und in Richtung Brösen geschwatzt hatten, .zu kurzem schreckhaftem Aufblicken.

Der alte Heilandt ließ die Schaufel im Sand, nahm die Kreuzhacke und legte meinen Nacken auf das blauschwarze Eisen. Die Kühle wirkte sich aus. Das Nasenbluten ließ etwas nach. Der alte Heilandt schippte schon wieder und hatte nicht mehr viel Sand neben dem Grab, da verebbte das Nasenbluten ganz und gar, aber das Wachsen blieb und zeigte sich mir durch inwendiges Knirschen, Rauschen und Knacken an.

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