Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (68 page)

Und noch einmal: »gib uns heute.« Jetzt war Korneff wieda im Text: »Schuld und nicht in Versuchung

...« Das war mehr, als ich dachte. »Reich, Kraft und Herrlichkeit.« Holte den bunten Rest heraus.

»Ewigkeit, Amen.« Während ich noch einmal zog, Korneff: »Amen« und noch einmal drückte:

»Amen«, als die drüben auf Feld neun schon mit dem Beileid anfingen, Korneff immer noch:

»Amen«, lag platt und erlöst auf dem Travertin, stöhnte: »Amen«, auch: »Haste noch Beton für untern Sockel?« Ich hatte und er: »Amen.«

Die letzten Schippen voll schüttete ich als Verbindung zwischen die beiden Pfeiler. Da schob sich Korneff von der polierten Schriftfläche und ließ sich von Oskar die herbstlich bunten Buchenblätter mit dem ähnlich gefärbten Inhalt der beiden Furunkel zeigen. Die Mützen rückten wir zurecht, legten Hand an den Stein und stellten das Grabdenkmal für Hermann Webknecht und Else Webknecht, geb.

Freytag, auf, während sich das Begräbnis auf Feld neun verflüchtigte.

FORTUNA NORD

Grabsteine konnten sich damals nur Leute leisten, die Wertvolles auf der Erdoberfläche zurückließen.

Es mußte nicht einmal ein Diamant oder eine ellenlange Perlenkette sein. Für fünf Zentner Kartoffeln gab es schon einen ausgewachsenen Meterstein aus Grenzheimer Muschelkalk. Stoff für zwei Anzüge mit Weste brachte uns das Denkmal für ein Doppelgrab aus Belgischem Granit auf drei Sockeln ein.

Die Witwe des Schneiders, die den Stoff hatte, bot uns gegen eine Grabeinfassung aus Dolomit die Verarbeitung des Stoffes an, da sie noch einen Gesellen beschäftigte.

So kam es, daß Korneff und ich nach Feierabend mit der Zehn in Richtung Stockum fuhren, die Witwe Lennert aufsuchten und uns Maß nehmen ließen. Oskar trug damals, lächerlich genug, eine von Maria umgearbeitete Panzerjägeruniform, deren Jacke, obgleich die Knöpfe versetzt waren, meiner besonderen Ausmaße wegen nicht zu schließen war.

Der Geselle, den die Witwe Lennert Anton nannte, baute mir aus dunkelblauem, feingestreiftem Tuch einen Anzug nach Maß: einreihig, aschgrau gefüttert, die Schultern gut, aber nicht falsche Werte schaffend unterarbeitet, der Buckel nicht etwa kaschiert, eher dezent betont, die Hosen mit Umschlag, doch nicht zu weit; es war ja noch immer Meister Bebra mein gutangezogenes Vorbild. Deshalb auch keine Schlaufen für einen Gürtel, sondern Knöpfe für Hosenträger, die Weste hinten blank, vorne matt, altrosa gefuttert. Das Ganze brauchte fünf Anproben.

Noch während der Schneidergeselle über Korneffs zweireihigem und meinem einreihigen Anzug saß, suchte ein Schuhfritze für seine dreiundvierzig durch Bombenschaden zu Tode gekommene Frau einen Meterstein. Der Mann wollte uns erst Bezugscheine bieten, aber wir wollten Ware sehen. Für den Schlesischen Marmor mitKunststeineinfassung und Versetzen bekam Korneff ein Paar dunkelbraune Halbschuhe und ein Paar Pantoffeln mit Ledersohle. Für mich fielen ein'Paar schwarze, wenn auch altmodische, so doch wunderbar weiche Schnürstiefel ab. Größe fünfunddreißig: die gaben meinen schwachen Füßen einen festen und eleganten Halt.

Um Hemden kümmerte sich Maria, der ich ein Bündel Reichsmark auf die Kunsthonigwaage legte:

»Ach würdest du mir zwei weiße Oberhemden, eines mit feinem Streifen, eine hellgraue Krawatte und eine maronenfarbene kaufen? Der Rest ist fürs Kurtchen oder für dich, liebe Maria, die du nie an dich denkst, immer an andere.«

Einmal in Geberlaune, schenkte ich Guste einen Schirm mit echter Hornkrücke und ein Spiel kaum gebrauchte Altenburger Skatkarten, da sie sich gerne die Bildchen legte und ungern ein Spiel bei den Nachbarn auslieh, wenn sie nach Kösters Heimkehr Fragen stellen wollte.

Maria beeilte sich, meinen Auftrag zu erledigen, erstand für den üppigen Rest des Geldes einen Regenmantel für sich, für Kurtchen einen Schultornister aus imitiertem Leder, der, so häßlich er war, vorläufig seinen Zweck erfüllen mußte. Zu meinen Hemden und Krawatten legte sie drei Paar graue Socken, die ich zu bestellen vergessen hatte.

Als Korneff und Oskar die Anzüge abholten, standen wir uns vor dem Spiegel der Schneiderwerkstatt verlegen und dennoch voneinander beeindruckt gegenüber. Korneff wagte kaum, seinen Hals mit von Furunkelnarben zerfurchtem Nacken zu drehen. Aus abfallenden Schultergelenken ließ er die Arme vornüber hängen und versuchte seine Knickbeine zu strecken. Mir gab das neue Gewand, besonders wenn ich die Arme vor dem Brustkorb verschränkte, dadurch meine oberen horizontalen Ausmaße vergrößerte, das rechte schmächtige Bein als Standbein benutzte, das linke lässig winkelte, etwas dämonisch Intellektuelles. Lächelnd Korneff und sein Erstaunen genießend, näherte ich mich dem Spiegel, stand jener von meinem verkehrten Konterfei beherrschten Fläche so nahe, daß ich sie hätte küssen können, hauchte mich aber nur an und sagte so nebenbei: »Hallo, Oskar! Es fehlt dir noch eine Krawattennadel.«

Als ich eine Woche später, an einem Sonntagnachmittag, die Städtischen Krankenanstalten betrat, meine Pflegerinnen besuchte, mich neu, eitel und tiptop von allen meinen besten Seiten zeigte, war ich schon Besitzer einer silbernen Krawattennadel mit Perle.

Die guten Mädchen verloren die Sprache, als sie mich im Stationszimmer sitzen sahen. Das war im Spätsommer siebenundvierzig. Ich kreuzte auf bewährte Art die Anzugarme über dem Brustkorb, spielte mit meinen Lederhandschuhen. Über ein Jahr lang war ich jetzt Steinmetzpraktikant und Meister im Hohlkehlenziehen. Ein Hosenbein legte ich übers andere, trug dennoch den Bügelfalten Sorge. Die gute Guste pflegte das Maßwerk, als wäre es für den heimkehrenden, dann alles ändernden Köster geschneidert worden. Schwester Helmtrud wollte den Stoff fühlen und fühlte ihn auch. Für Kurtchen kaufte ich im Frühjahr siebenundvierzig, als wir seinen siebenten Geburtstag mit selbstgemixtem Eierlikör und Sandkuchen — Rezept: man nehme! — feierten, einen mausgrauen Lodenmantel. Ich bot den Krankenschwestern, zu denen sich auch Schwester Gertrud gesellte, Konfekt an, das eine Diabasplatte außer zwanzig Pfund braunem Zucker eingebracht hatte. Kurtchen ging meines Erachtens nach viel zu gerne zur Schule. Die Lehrerin, unverbraucht und, bei Gott, keine Spollenhauer, lobte ihn, sagte, er sei helle, doch etwas ernst. Wie fröhlich Krankenschwestern sein können, wenn man ihnen Konfekt anbietet! Als ich einen Augenblick mit Schwester Gertrud alleine im Stationszimmer war, erkundigte ich mich nach ihren freien Sonntagen.

»Na heut' zum Beispiel, da hab ich von fünf an frei. Aber is ja doch nix los in der Stadt«, resignierte Schwester Gertrud.

Ich war der Meinung, es käme auf einen Versuch an. Sie wollte es erst gar nicht versuchen, sich viel lieber mal richtig ausschlafen. Da wurde ich direkter, brachte meine Einladung vor, schloß, weil sie sich immer noch nicht entscheiden konnte, geheimnisvoll mit den Worten: »Ein wenig Unternehmungsgeist, Schwester Gertrud! Man ist nur einmal jung. An Kuchenmarken soll es bestimmt nicht fehlen.« Den Text begleitend, klopfte ich leicht stilisiert gegen das Tuch vor meiner Brusttasche, bot ihr noch ein Stückchen Konfekt an und bekam merkwürdigerweise einen gelinden Schreck, als das derb westfälische Mädchen, das ganz und gar nicht mein Typ war, zum Salbenschränkchen hingewendet hören ließ: »Na denn gut, wenn Sie meinen. Sagen wir um sechs, aber nicht hier, sagen wir, am Corneliusplatz.«

Niemals hätte ich Schwester Gertrud ein Treffen in der Eingangshalle oder vor dem Hauptportal der Krankenanstalten zugemutet. So erwartete ich sie um sechs unter der damals noch kriegsbeschädigten, keine Zeit ansagenden Normaluhr am Corneliusplatz. Sie kam pünktlich, wie ich auf meiner Wochen zuvor erstandenen, nicht allzu kostbaren Taschenuhr nachlesen konnte. Fast hätte ich sie nicht erkannt; denn hätte ich sie rechtzeitig, sagen wir, an der fünfzig Schritt entfernten, quer gegenüberliegenden Straßenbahnhaltestelle aussteigen sehen, bevor sie mich bemerken konnte, hätte ich mich verdrückt, enttäuscht davongemacht; denn Schwester Gertrud kam nicht als Schwester Gertrud, nicht in Weiß kam sie mit der Rotkreuzbrosche, sondern als x-beliebiges, Zivilkleidung dürftigster Machart tragendes Fräulein Gertrud Wilms aus Hamm oder Dortmund oder sonstwoher zwischen Dortmund und Hamm.

Sie bemerkte meinen Mißmut nicht, erzählte, daß sie fast zu spät gekommen wäre, weil die Oberschwester ihr aus reiner Schikane noch kurz vor fünf etwas aufgetragen habe.»Nun, Fräulein Gertrud, darf ich einige Vorschläge machen? Vielleicht beginnen wir ganz zwanglos in einer Konditorei und hinterher, was Sie mögen: eventuell Kino, fürs Theater werden leider keine Karten mehr zu bekommen sein, oder wie wäre es mit einem Tänzchen?«

»Au ja, gehn wir tanzen!« begeisterte sie sich und merkte zu spät, dann jedoch ihren Schreck kaum verbergend, daß ich als ihr Tanzpartner eine zwar gutangezogene, dennoch unmögliche Figur machen würde.

Mit leichter Schadenfreude — warum war sie auch nicht in jener von mir so geschätzten Krankenschwesterntracht gekommen -festigte ich den einmal von ihr gutgeheißenen Plan, und sie, der es an Vorstellungskraft fehlte, gab den Schreck bald auf, aß mit mir, ich ein Stückchen, sie drei Stückchen Torte, in der Zement verbacken sein mußte, stieg, nachdem ich mit Kuchenmarken und Bargeld gezahlt hatte, mit mir bei Koch am Wehrhahn in die Straßenbahn Richtung Gerresheim ein, denn unterhalb Grafenberg mußte nach Korneffs Angaben ein Tanzlokal sein.

Das letzte Stück bergauf gingen wir, weil die Straßenbahn vor der Steigung hielt, langsam zu Fuß. Ein Septemberabend, wie er im Buche steht. Gertruds bezugscheinfreie Holzsandalen klapperten gleich der Mühle am Bach. Das machte mich fröhlich. Die Leute, die bergab kamen, drehten sich nach uns um. Dem Fräulein Gertrud war das peinlich. Ich war's gewohnt, nahm keine Rücksicht: schließlich waren es meine Kuchenmarken gewesen, die ihr zu drei Stückchen Zementtorte in der Konditorei Kürten verhelfen hatten.

Das Tanzlokal hieß Wedig und führte den Untertitel: Löwenburg. Schon an der Kasse gab es Gekicher, und, als wir eintraten, verdrehte Köpfe. Schwester Gertrud wollte in ihrer Zivilkleidung unsicher werden, wäre fast über einen Klappstuhl gestolpert, hätten der Kellner und ich sie nicht gehalten. Jener wies uns einen Tisch nahe der Tanzfläche, und ich bestellte zweimal Kaltgetränk, fügte leise, nur dem Kellner vernehmlich hinzu: »Aber mit Schuß bitte.«

Die Löwenburg bestand zur Hauptsache aus einem Saal, der frühe: einer Reitschule gedient haben mochte. Mit Papierschlangen und Girlanden vom letzten Karneval hatte man die oberen Regionen, die reichlich beschädigte Decke verhängt. Halbdunkle, dazu gefärbte Lie-ter kreisten, warfen Reflexe auf die straff zurückgekämmten Haare junger, teilweise eleganter Schwarzhändler und auf die Taftblusen der Mädchen, die sich alle untereinander zu kennen schienen.

Als das Kaltgetränk mit Schuß serviert wurde, erstand ich beim Kellner zehn Amis, bot Schwester Gertrud eine an, eine dem Kellner, der sie sich hinters Ohr steckte, und nahm, nachdem ich meiner Dame Feuer gegeben hatte, Oskars Bernsteinspitze hervor, um eine Camel bis knapp zur Hälfte zu rauchen. Die Tische neben uns beruhigten sich. Schwester Gertrud wagte aufzublicken. Und als ich die stattliche Camelkippe im Aschenbecher ausdrückte und liegenließ, nahm Schwester Gertrud den Stummel mit sachlichem Griff an sich und steckte ihn in ein Seitenfach ihres Wachstuchhandtäschchens.

»Für meinen Verlobten in Dortmund«, sagte sie, »der raucht wie verrückt.«

Ich war froh, nicht ihr Verlobter sein zu müssen, auch daß die Musik einsetzte.

Die Fünfmannband spielte: »Don't fence me in.« Diagonal über die Tanzfläche eilende Kreppsohlenmänner stießen nicht zusammen, angelten sich Mädchen, die beim Aufstehen ihre Handtäschchen Freundinnen in Verwahrung gaben.

Es zeigten sich einige recht flüssig, wie eingeschult tanzende Paare. Viel Chewing Gum wurde bewegt, einige Burschen stellten für mehrere Takte das Tanzen ein, hielten die ungeduldig auf der Stelle dribbelnden Mädchen am Oberarm — englische Brocken ersetzten dem rheinischen Wortschatz die Hefe. Bevor die Paare sich wieder im Tanz fanden, wurden kleine Gegenstände weitergereicht: echte Schwarzhändler kennen keinen Feierabend.

Diesen Tanz ließen wir aus, auch den nächsten Fox. Oskar schaute den Männern gelegentlich auf die Beine und forderte Schwester Gertrud, die nicht wußte, wie ihr geschah, zu einem Tänzchen auf, als die Band »Rosamunde« anstimmte.

Mich an Jan Bronskis Tanzkünste erinnernd, wagte ich, der ich fast zwei Köpfe kleiner war als Schwester Gertrud und die groteske Note unserer Verbindung erkannte, auch bestärken wollte, einen Schieber: hielt sie, die sich gottergeben führen ließ, die Handfläche nach außen gekehrt am Gesäß, spürte dreißig Prozent Wolle, schob, mit der Wange ihrer Bluse nahe, die ganze kräftige Schwester Gertrud rückwärts und zwischen ihrem Schritt spurend, Platz fordernd, weil links unsere starren Arme ausschwenkend, von Ecke zu Ecke über die Tanzfläche. Es ging besser, als ich zu hoffen gewagt hatte.

Erlaubte mir Variationen, hielt mich, oben die Bluse wahrend, unten bald links, bald rechts ihrer Halt bietenden Hüfte, umtanzte sie, ohne dabei jene klassische Haltung des Schiebers aufzugeben, die den Eindruck zu erwecken hat: die Dame stürzt sogleich rückwärts, der Herr, der sie stürzen will, stürzt vorwärts über sie hinweg; und dennoch stürzen sie nicht, weil sie ausgezeichnete Schiebertänzer sind.

Bald hatten wir Zuschauer. Ich hörte Ausrufe wie: »Han ich dich nich jesacht, dat issen Jimmy! Guck dich den Jimmy an. Hallo Jimmy! Come on, Jimmy! Let's go, Jimmy!«

Leider konnte ich das Gesicht der Schwester Gertrud nicht sehen und mußte mich mit der Hoffnung begnügen, sie nehme den Beifall stolz und gelassen zugleich als eine Ovation der Jugend auf, finde sich in den Applaus, wie sie sich als Krankenschwester in die oft unbeholfenen Schmeicheleien der Patienten zu finden wußte.Als wir uns setzten, wurde immer noch geklatscht. Die Fünfmannband gab, wobei sich der Schlagzeuger besonders hervortat, einen Tusch und noch einen Tusch und einen dritten Tusch. »Jimmy«, wurde gerufen und »Haste die beiden gesehen?« Da erhob sich Schwester Gertrud, stammelte etwas von Toilettegehen, nahm das Handtäschchen mit der Kippe für den Dortmunder Verlobten, drängte sich hochrot, überall anstoßend 'zwischen Stühle und Tische in Richtung Toilette, neben der Kasse, Sie kam nicht wieder. Der Tatsache, daß sie vorm Weggehen mit langem Schluck ihr Kaltgetränkglas geleert hatte, durfte ich entnehmen, daß Glasaustrinken Abschied bedeutet: Schwester Gertrud ließ mich sitzen.

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