Read Die Blechtrommel Online

Authors: Günter Grass

Tags: #Roman, #Klassiker

Die Blechtrommel (72 page)

Zwar reizte Ulla auch mich durch ihre weinerliche Zerbrechlichkeit, die im Grunde die Zähigkeit eines Engels war, zu Gewalttätigkeiten; dennoch konnte ich mich immer beherrschen und lud sie, wenn ich Gelüst nach einer Peitsche verspürte, in eine Konditorei ein, führte sie, leicht snobistisch, wie mich der Umgang mit Künstlern stimmte, als eine seltene hochgewachsene Pflanze neben meinen Proportionen auf der belebten und gaffenden Königsallee spazieren, kaufte ihr lila Strümpfe und rosa Handschuhe.

Anders verhielt es sich mit dem Maler Raskolnikoff, der mit Ulla, ohne ihr nahe zu treten, intimsten Umgang pflegte. So ließ er sie auf der Drehscheibe mit weitgeöffneten Beinen posieren, malte jedoch nicht, sondern nahm einige Schrittchen entfernt auf einem Schemel ihrer Scham gegenüber Platz, starrte, von Schuld und Sühne eindringlich flüsternd, in diese Richtung, bis die Scham der Muse feucht wurde, sich öffnete und auch Raskolnikoff durch bloßes Reden und Hinsehen zum befreienden Ergebnis kam, aufsprang vom Schemel und der Madonna 49 auf der Staffelei mit grandiosen Pinselhieben zusetzte.

Auch mich starrte Raskolnikoff manchmal, wenn auch aus anderen Gründen an. Er meinte, es fehle etwas an mir. Von einem Vakuum zwischen meinen Händen sprach er und drückte mir nacheinander Gegenstände zwischen die Finger, die ihm bei seiner surrealistischen Phantasie überreichlich in den Sinn kamen. So bewaffnete er Oskar mit einer Pistole, ließ mich als Jesus auf die Madonna zielen.

Eine Sanduhr, einen Spiegel mußte ich ihr hinhalten, der sie greulich verzerrte, weil er konvex war.

Scheren, Fischgräten, Telefonhörer, Totenköpfe, kleine Flugzeuge, Panzerwagen, Ozeandampfer hielt ich mit beiden Händen und füllte — Raskolnikoff merkte es schnell — das Vakuum dennoch nicht aus.

Oskar fürchtete sich vor dem Tag, da der Maler jenen Gegenstand bringen würde, welcher allein bestimmt war, von mir gehalten zu werden. Als er dann schließlich die Trommel brachte; schrie ich:

»Nein!«

Raskolnikoff: »Nimm die Trommel, Oskar, ich hab dich erkannt!«

Ich zitternd: »Nie wieder. Das ist vorbei!«

Er, düster: »Nichts ist vorbei, alles kommt wieder, Schuld, Sühne, abermals Schuld!«

Ich, mit letzter Kraft: »Oskar hat gebüßt, erlaßt ihm die Trommel, alles will ich halten, nur das Blech nicht!«

Ich weinte, als sich die Muse Ulla über mich beugte, und konnte, tränenblind wie ich war, nicht verhindern, daß sie mich küßte, daß mich die Muse schrecklich küßte — ihr alle, die ihr jemals einen Musenkuß empfinget, könnt sicher verstehen, daß Oskar sogleich nach dem stempelnden Kuß die Trommel, jenes Blech wieder an sich nahm, das er vor Jahren von sich gewiesen, im Sand des Friedhofes Saspe vergraben hatte.

Aber ich trommelte nicht. Ich posierte nur und wurde — schlimm genug — als trommelnder Jesus der Madonna 49 auf den linken nackten Oberschenkel gemalt.

So sah mich Maria auf dem Kunstplakat, das eine Kunstausstellung ankündigte. Sie besuchte ohne mein Wissen die Ausstellung, muß wohl lange und zornansammelnd vor dem Bild gestanden haben; denn als sie mich zur Rede stellte, schlug sie mich mit dem Schullineal meines Sohnes Kurt. Sie, die seit einigen Monaten eine gutbezahlte Arbeit in einem größeren Feinkostgeschäft zuerst als Verkäuferin, recht bald, bei ihrer Tüchtigkeit, als Kassiererin gefunden hatte, begegnete mir als nunmehr im Westen guteingebürgerte Person, war kein Schwarzhandel treibender Ostflüchtling mehr und konnte mich deshalb mit ziemlicher Überzeugungskraft ein Ferkel, einen Hurenbock, ein verkommenes Subjekt nennen, schrie auch, sie wolle das Saugeld, das ich mit der Schweinerei verdiene, nicht mehr sehen, auch mich wolle sie nicht mehr sehen.

Wenn Maria auch diesen letzten Satz bald zurücknahm und vierzehn Tage später einen nicht geringen Teil meines Modellgeldes wieder zum Wirtschaftsgeld zählte, entschloß ich mich dennoch, die Wohngemeinschaft mit ihr, mit ihrer Schwester Guste und meinem Sohn Kurt aufzugeben, wollte eigentlich weit fort, nach Hamburg, wenn möglich wieder ans Meer, doch Maria, die sich recht schnell mit meinem geplanten Umzug abfand, überredete mich, von ihrer Schwester Guste unterstützt, ein Zimmer in ihrer und Kurtchens Nähe, auf jeden Fall in Düsseldorf zu suchen.

DER IGEL

Aufgebaut, abgeholzt, ausgemerzt, einbezogen, fortgeblasen, nachempfunden: erst als Untermieter lernte Oskar die Kunst des Zurücktrommelns. Nicht nur das Zimmer, der Igel, das Sargmagazin auf dem Hof und der Herr Münzer halfen mir dabei; Schwester Dorothea bot sich mir als Stimulans an.

Kennen Sie Parzival? Auch ich kenne ihn nicht besonders gut. Einzig die Geschichte mit den drei Blutstropfen im Schnee ist mir geblieben. Diese Geschichte stimmt, weil sie zu mir paßt.

Wahrscheinlich paßt sie zu jedem, der eine Idee hat. Aber Oskar schreibt von sich; deshalb ist sie ihm fast verdächtig kleidsam auf den Leib geschrieben.

Zwar diente ich noch immer der Kunst, ließ mich blau, grün, gelb und in Erdfarbe malen, ließ mich anschwärzen und vor Hintergründe stellen, befruchtete mit der Muse Ulla gemeinsam ein ganzes Wintersemester der Kunstakademie — auch gaben wir dem folgendenSommersemester noch unseren Musensegen — aber der Schnee war schon gefallen, der jene drei Blutstropfen aufnahm, die mir den Blick gleich dem Narren Parzival festnagelten, von dem der Narr Oskar so wenig weiß, daß er sich zwanglos mit ihm identisch fühlen kann.

Mein ungeschicktes Bild wird ihnen deutlich genug sein: der Schnee, das ist die Berufskleidung einer Krankenschwester; das Rote Kreuz, welches die meisten Krankenschwestern, so auch Schwester Dorothea, in der Mitte ihrer den Kragen zusammenhaltenden Brosche tragen, leuchtete mir an Stelle der drei Blutstropfen. Da saß ich nun und bekam den Blick nicht fort.

Doch bevor ich in dem ehemaligen Badezimmer der Zeidlerschen Wohnung saß, galt es, dieses Zimmer zu suchen. Das Wintersemester ging gerade zu Ende, die Studenten kündigten teilweise ihre Zimmer, fuhren über Ostern nach Hause und kamen wieder oder kamen nicht wieder. Meine Kollegin, die Muse Ulla, war mir behilflich bei der Zimmersuche, ging mit mir zur Studentenvertretung. Dort gab man mir mehrere Adressen und ein Empfehlungsschreiben der Kunstakademie auf den Weg.

Bevor ich die Wohnungen aufsuchte, besuchte ich nach längerer Zeit wieder einmal den Steinmetz Korneff in seiner Werkstatt am Bittweg. Anhänglichkeit ließ mich den Weg machen, auch suchte ich während der Semesterferien Arbeit; denn die wenigen Stunden, die ich als Privatmodell mit und ohne Ulla bei einigen Professoren zu stehen hatte, konnten mich während der folgenden sechs Wochen nur schlecht ernähren — auch galt es, die Miete für ein möbliertes Zimmer aufzubringen.

Ich fand Korneff unverändert mit zwei fast abgeheilten und einem noch nicht reifen Furunkel im Nacken über eine Wand Belgisch Granit gebeugt, die er abgestockt hatte und nun Schlag auf Schlag scharierte. Wir sprachen ein bißchen, und ich spielte andeutungsweise mit einigen Schrifteisen, blickte mich auch nach aufgebänkten Steinen um, die fertig geschliffen und poliert auf Grabinschriften warteten. Zwei Metersteine, Muschelkalk und ein Schlesischer Marmor für ein zweistelliges Grab, sahen aus, als hätte Korneff sie verkauft, als verlangten sie nach einem kundigen Schrifthauer. Ich freute mich für den Steinmetz, der nach der Währungsreform eine etwas schwierige Zeit gehabt hatte.

Doch hatten wir uns beide damals schon mit der Weisheit zu trösten gewußt: Selbst eine noch so lebensbejahende Währungsreform kann die Leute nicht davon abhalten, zu sterben und einen Grabstein zu bestellen.

Das hatte sich bewahrheitet. Die Leute starben und kauften wieder. Außerdem gab es Aufträge, die es vor der Währungsreform nicht gegeben hatte: Metzgereien ließen ihre Fassaden, auch das Ladeninnere mit buntem Lahnmarmor verkleiden; in den beschädigten Sandstein und Tuffstein manches Bank-und Kaufhauses mußten Vierungen geschlagen und gefüllt werden, damit Bankhäuser und Kaufhäuser wieder zu Ansehen kamen.

Ich lobte Korneffs Emsigkeit, fragte ihn, ob er denn mit all der vielen Arbeit fertig werde. Zuerst wich er aus, gab dann zu, daß er sich manchmal vier Hände wünsche, machte mir schließlich den Vorschlag, ich könne halbtags bei ihm schriftklopfen, er zahle für Keilschrift in Kalkstein fünfundvierzig Pfennige, in Granit und Diabas fünfundfünfzig Pfennige pro Buchstaben; erhabene Lettern stünden auf sechzig und fünfundsiebenzig Pfennigen.

Da nahm ich mir gleich einen Muschelkalk vor, war schnell wieder in der Arbeit und den Buchstaben hinterher, schlug in Keilschrift: Aloys Küfer — geb. 3.9.1887 — gest. 10.6.1946 — war mit den dreißig Buchstaben und Zahlen in knapp vier Stunden fertig und erhielt, als ich ging, laut Tarif dreizehn Mark und fünfzig Pfennige.

Das war ein Drittel der Monatsmiete, die ich mir zugestanden hatte. Mehr als vierzig Mark konnte und wollte ich nicht ausgeben, denn Oskar hatte es sich zur Pflicht gemacht, weiterhin den Haushalt in Bilk, Maria, den Jungen und Guste Köster bescheiden, aber dennoch zu unterstützen.

Von den vier Adressen, die mir die freundlichen Leutchen in der Studentenvertretung der Akademie überlassen hatten, gab ich der Adresse: Zeidler, Jülicher Straße 7, den Vorrang, weil ich es von dort nah zur Kunstakademie hatte.

Anfang Mai, es war heiß, dunstig und niederrheinisch, machte ich mich mit genügend Bargeld versehen auf den Weg. Maria hatte mir meinen Anzug gerichtet, ich sah manierlich aus. Jenes Haus, in dessen dritter Etage Zeidler eine Dreizimmerwohnung bewohnte, stand in bröckelndem Putz hinter einer staubigen Kastanie. Da die Jülicher Straße zur guten Hälfte aus Trümmern bestand, konnte man schlecht von Nachbarhäusern und dem Haus gegenüber sprechen. Links ließ ein mit verrosteten T-Trägern durchwachsener, Grünzeug und Butterblumen treibender Berg die einstige Existenz eines vierstöckigen Gebäudes vermuten, das sich dem Zeidlerschen Haus angelehnt hatte. Rechts war es gelungen, ein teilzerstörtes Grundstück bis zum zweiten Stockwerk wieder instandzusetzen. Doch mochten die Mittel nicht ganz gereicht haben. Es galt noch die lückenhafte, vielfach gesprungene Fassade aus poliertem schwarzschwedischem Granit auszubessern. Der Inschrift »Begräbnisinstitut Schornemann« fehlten mehrere, ich weiß nicht mehr welche, Buchstaben. Glücklicherweise waren die beiden, keilförmig vertieften, den immer noch spiegelglatten Granit zeichnenden Palmenzweige unbeschädigt geblieben, konnten also mithelfen, dem lädierten Geschäft eine halbwegs pietätvolle Ansicht zu geben.

Das Sargmagazin dieses schon seit fünfundsiebenzig Jahren bestehenden Unternehmens befand sich auf dem Hof und sollte mir von meinem Zimmer, das nach hinten sah, oft genug betrachtenswert sein.

Den Arbeitern sah ich zu, die bei gutem Wetter einige Särge aus dem Schuppen rollten, auf Holzböcke stellten, um die Politur dieser Gehäuse, die sich alle auf mir wohlvertraute Art zum Fußende hin verjüngten, mit allerlei Mittelchen aufzufrischen.

Zeidler selbst machte auf, nachdem ich geklingelt hatte. Er stand klein, untersetzt, kurzatmig, iglig in der Tür, trug eine dickglasige Brille, verbarg die untere Gesichtshälfte hinter flockigem Seifenschaum, hielt sich rechts den Pinsel gegen die Wange, schien ein Alkoholiker und, der Sprache nach, ein Westfale zu sein.

»Wenn Ihnen das Zimmer nich gefällt, sagen Sie es gleich. Ich bin beim Rasieren und muß mir noch die Füße waschen.«

Zeidler liebte keine Umstände. Ich sah mir das Zimmer an. Es konnte mir nicht gefallen, weil es ein außer Betrieb gesetztes, zur guten Hälfte türkisgrün gekacheltes, ansonsten unruhig tapeziertes Badezimmer war. Dennoch sagte ich nicht, das Zimmer könne mir nicht gefallen. Ohne Rücksicht auf Zeidlers trocknenden Seifenschaum, auf seine ungewaschenen Füße, beklopfte ich die Badewanne, wollte wissen, ob es nicht ohne Wanne gehe; die habe doch ohnehin kein Abflußrohr.

Lächelnd schüttelte Zeidler seinen grauen Igelkopf, versuchte vergeblich mit dem Rasierpinsel Schaum zu schlagen. Das war seine Antwort, und so erklärte ich mich bereit, das Zimmer mit Badewanne für monatlich vierzig Mark zu mieten.

Als wir wieder auf dem spärlich beleuchteten, schlauchartigen Korridor standen, an den mehrere Räume mit verschieden gestrichenen, teilweise verglasten Türen stießen, wollte ich wissen, wer sonst noch in Zeidlers Wohnung wohne. »Meine Frau und Untermieter.«

Ich tippte gegen eine Milchglastür in der Mitte des Korridors, die man von der Wohnungstür aus mit einem Schritt erreichen konnte.

»Da wohnt die Krankenschwester. Aber das geht Sie nichts an. Die werden Sie sowieso nicht zu sehen bekommen. Die schläft nur hier, und das auch nicht immer.«

Ich will nicht sagen, daß Oskar unter dem Wörtchen »Krankenschwester« zuckte. Mit dem Kopf nickte er, wagte keine Auskunft über die restlichen Zimmer zu verlangen, wußte über sein Zimmer mit Badewanne Bescheid; das lag zur rechten Hand, schloß mit der Breite der Tür den Korridor ab.

Zeidler tippte mir gegen den Rockaufschlag: »Kochen können Sie bei sich, wenn Sie einen Spirituskocher haben. Von mir aus auch manchmal in der Küche, falls der Herd nicht zu hoch für Sie ist.« Das war seine erste Bemerkung über Oskars Körpergröße. Das Empfehlungsschreiben der Kunstakademie, das er rasch überflogen hatte, tat seine Wirkung, weil es vom Direktor, Professor Reuser, unterschrieben war. Ich sagte zu all seinen Ermahnungen ja und amen, prägte mir ein, daß die Küche links neben meinem Zimmer lag, versprach ihm, die Wäsche draußen waschen zu lassen, da er des Dampfes wegen um die Badezimmertapete fürchtete, konnte das mit einiger Gewißheit versprechen; denn Maria hatte sich bereit erklärt, meine Wäsche zu waschen.

Nun hätte ich gehen, mein Gepäck holen, die Umzugsformulare ausfüllen sollen. Das jedoch tat Oskar nicht. Der konnte sich nicht von der Wohnung trennen. Ohne jeden Grund bat er seinen zukünftigen Vermieter, ihm die Toilette zu weisen. Mit dem Daumen wies der auf eine an Kriegsjahre und unmittelbar darauf folgende Nachkriegsjahre erinnernde Sperrholztür. Als Oskar Anstalten machte, die Toilette sogleich, zu benutzen, knipste ihm Zeidler, dem die Seife im Gesicht bröckelte und juckte, das Licht jenes Örtchens an.

Drinnen ärgerte ich mich, weil Oskar gar kein Bedürfnis verspürte. Wartete aber doch hartnäckig, bis ich etwas Wasser lassen konnte, mußte mir bei dem geringen Blasendruck Mühe geben — auch weil ich der hölzernen Brille zu nahe war — Brille und Fliesenboden des engen Ortes nicht zu nässen.

Mein Taschentuch beseitigte Spuren auf dem abgesessenen-Holz, Oskars Schuhsohlen mußten einige unglückliche Tropfen auf den Fliesen verreiben.

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