Read Meat Online

Authors: Joseph D'Lacey

Tags: #Fiction, #Horror, #Thrillers, #Suspense, #Science Fiction, #General, #General Fiction

Meat (6 page)

 

Die Vorfreude ließ sein Herz derartig heftig schlagen, dass er das Pochen im Hals spürte. Sein Gesicht war heiß, und seine Eier schmerzten.

Sein Wecker klingelte um vier Uhr morgens, aber er machte ihn niemals aus, um sich noch einmal umzudrehen. Auf Waschen und Ankleiden verwendete er fünf Mi
nuten und verdrückte dann ein Frühstück aus Steak und gebratener Blutwurst. Er brauchte viel Protein für so eine lange Schicht. Zu seinem Frühstück trank Greville Snipe gekochte Milch mit drei großen Löffeln Zucker. Derart aufgetankt war er bereit für den Tag im Milchhof.

Nicht die klamme, grausige, den ganzen Tag lang mit den letzten Minuten nackter Todesangst aufgeladene Luft des Schlachthauses, nicht für ihn. Nicht die blauen Kunststoffschürzen und die kniehohen Gummistiefel, nicht für ihn. Weder das Bolzenschussgerät noch die Zugkette noch die zweihändige Knochenschere, nicht für ihn. Weder das langschneidige Messer noch die Säge. Snipe sah sich selbst als einen gütigen Menschen. Einen menschlichen Arbeiter in einer unmenschlichen Industrie.

Im Milchhof gab es kein Sterben. Kein Strampeln, kein Treten, kein Ausbluten. In seiner Arbeitswelt war die Luft, die er atmete, still. Nicht gerade heiter und gelassen, aber definitiv auch nicht verdammt. Bis jetzt nicht. Die Kühe im Milchhof befanden sich in der Blüte ihres Lebens und hatten noch viele produktive Jahre vor sich. Während dieser Zeit würden sie gut essen und gut schlafen. Das Versprechen auf ihren sicheren Todes lag noch weit entfernt. Sie waren wertvolle Tiere, und sie unterlagen seiner Verantwortung.

Um fünf Uhr kontrollierte er die Herde ein erstes Mal: zur Vorbereitung auf den ersten Melkgang.

Er flanierte voller Stolz durch den Melkstand. Die Kühe hatten die Handgelenke mittels einer langen Kette an die Knöchel gefesselt. Das verhinderte, dass sie sich im Melkgeschirr verhedderten oder sich dem Anbringen der Melkbecher an ihren Zitzen widersetzten. Snipes Trupp, seine vier Jungs, arbeiteten schnell und effizient ― dank seines Trainings. Sie liefen von Box zu Box und schafften es inner
halb von fünf Minuten, hundertfünfzig Kühen das Geschirr anzulegen. Keiner aus dem Trupp war gerne hier. Wenn es irgendwo sonst auf der Welt irgendeinen anderen Job für sie gegeben hätte, sie hätten ihn genommen. Dieser Tage aber blieb den Menschen nur selten eine Wahl. Der Melkstand, die Kühe, die Maschinen: All das war den jungen Leuten nicht ganz geheuer. Auch ein Grund dafür, dass sie so schnell waren. Schnell, aber keineswegs nachlässig. Das hatte er ihnen abgewöhnt.

Sie waren noch grün hinter den Ohren, keiner von ihnen älter als neunzehn und mit der Zeit würden sie lernen, zu begreifen, wie wichtig ihre Arbeit war. Zwar wussten sie es nicht, aber sie waren privilegiert und im Gegensatz zu den meisten anderen Jobs in der Stadt, brachte die Arbeit im Melkstand ihnen durchaus gesellschaftliches Ansehen. Immerhin leisteten sie einen nicht unerheblichen Anteil zur Versorgung der Stadt.

Nachdem das Geschirr erst einmal angebracht war, ging der Melkgang rasch vorüber. In nur zwanzig Minuten brachten sie den Ertrag eines halben Tages ein. Danach machten sich Snipes Jungs ein zweites Mal auf den Weg durch den Stand, entfernten die Melkbecher und sammelten sie für die Sterilisation ein. Die gesammelte frische Milch wurde dann zur Pasteurisation und Homogenisation in Tanks gepumpt. Da diese Prozesse vollautomatisiert waren, konnten seine Jungs sich in der Zwischenzeit eine großzügige Auszeit nehmen.

Er hatte dann eine gute Stunde Zeit, um durch den Milchstand zu gehen und jede einzelne Kuh der Herde zu überprüfen. Das war es, was seinen Puls so beschleunigte. Es gab vier Reihen mit jeweils vierzig einzelnen Melkboxen, die beiden Reihen im Zentrum waren Rücken an Rücken angelegt. Zwischen den Reihen eins und zwei sowie den
Reihen drei und vier verliefen zwei breite Betonstreifen mit jeweils einer mittig angelegten Abflussrinne. Viele Kühe urinierten oder koteten während des Melkens. Nachdem sie auf die Felder zurückgekehrt waren, wurde der gesamte Melkstand abgespritzt. Snipe hatte sich an den Gestank gewöhnt, aber seine Jungs trugen die komplette Schicht über ihre Masken.

Während der Stunde, die er mit der Herde allein war, kontrollierte Snipe jede Kuh in jeder Box. In der Herde waren sie kaum voneinander zu unterscheiden, aber es
war
durchaus möglich, unterschiedliche Merkmale und individuelle Verhaltensweisen auszumachen. Snipe konnte jede Kuh durch bloßes Ansehen ihrer Nummer zuordnen. Gleich einem General, der seine Truppen inspizierte, schritt er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen die Boxen ab. Im Gegenzug verfolgten sämtliche Augen im Milchhof seinen Weg. Als Melker waren Snipes einzige Interessen gute Milcherträge und eine gesunde Herde. Er fühlte sich verpflichtet, Euter und Zitzen jeder einzelnen Kuh zu überprüfen.

In den meisten Fällen beschränkte sich diese Überprüfung auf einen kurzen Blick. Was er sehen wollte, waren entleerte Euter mit einem rötlichen Ring um die vorstehenden Zitzen herum. Gesundes, entspanntes Eutergewebe mit einem Saugmal, dort, wo es sein sollte. Wo er allerdings einen roten Ring zu dicht an oder gar auf der Zitze bemerkte, hielt er an, um nachzusehen, ob das Abpumpen irgendwelche Schäden verursacht hatte. Er notierte die Boxennummer und die Nummer der Kuh in einem kleinen weißen Notizbuch, das er in der Außentasche seines weißen Melkerkittels bei sich trug. Später würde er ein paar Worte mit dem Mitglied seines Trupps wechseln, das für die entsprechende Nachlässigkeit verantwortlich zeichnete.

Abgesehen von den Antibiotikaspritzen, die jedes Tier in der Herde regelmäßig zur Infektionsvermeidung erhielt, blieb Mastitis offiziell unbehandelt. Aber Snipe leitete eine vorbildliche Abteilung und zog es vor, ein wenig mehr für seine Milchkühe zu tun. Wann immer ihm bei seinen Kühen beschädigte, verkrustete oder wunde Zitzen auffielen, behandelte er sie. In seiner Hosentasche hatte er immer ein kleines Glas Creme dabei, mit dem seine Mutter, als er noch ein Kind war, seine trockene Haut behandelt hatte. Sie räch nach Honig und altem Leder. Auf dem Etikett stand »Schönheitsbalsam«. Tatsächlich sollte das Produkt vorrangig Frauen ansprechen, die ihre Hände weich und geschmeidig halten wollten. Snipe hatte gelernt, es für andere Dinge einzusetzen, bevor er realisierte, dass es helfen könnte, den gereizten Eutern seiner Milchkühe Linderung zu verschaffen. Es verhalf ihm zu außerordentlich komplexen Empfindungen, wenn er diesen »Schönheitsbalsam« in die wunden Euter eines Tieres seiner Herde massierte. Sein Blick wurde ein wenig unscharf, und er entglitt in eine gleichermaßen andächtige, entzückte und schuldbewusste Trance. Er wich dem Blick der Kuh aus und konzentrierte sich auf das Gefühl des geschwollenen Euters unter seinen behutsamen Fingern. Gelegentlich trat ein letzter Tropfen Milch aus der betroffenen Zitze, dann hielt Snipe inne und sah der Kuh ins Gesicht. Von Leidenschaft durchflutet, mit heftig erigiertem Penis und einem stechenden Schmerz in den Hoden ging er anschließend weiter durch die Reihen.

  
4

 

Am nächsten Tag waren Hema und Harsha krank.

Richard hatte das Haus noch im Dunkeln verlassen, jeder Muskel an seinem abgezehrten Körper war stolz gespannt, als er das Bündel, aufgefüllt mit Sand und Ziegeln, auf den Rücken hievte. Maya beobachtete ihn voller Vorfreude, denn sie wusste, dass der Rucksack am Abend mit etwas anderem gefüllt sein würde als der unangemessenen Bürde der Schuld ihres Mannes. Sie aß einen Apfel zum Frühstück, ganz ohne sich darüber zu ärgern. Sie sang ein Lied, das sie als Kind gelernt hatte, während sie Früchte schnitt und den Haferbrei für die Kinder vorbereitete.

Als sie nach oben ging, um sie aus den Betten zu scheuchen, fand sie die beiden aneinandergeklammert und im Schlaf fröstelnd in Harshas Bett. Schweiß verlieh ihrem ohnehin schon dunklen Haar einen schwarzen Glanz. Es erinnerte sie an Richard. An den Schweiß, der jeden Abend beim Essen von seinen Schläfen perlte. Sie befühlte ihre Brauen. Ihre Mädchen brannten förmlich. Verflucht, Richard, dachte sie. Ihr Schweiß war sein Schweiß. Irgendwie hatte er seinen Wahnsinn auf sie übertragen. Er lag ihnen als feuchter Film auf der Stirn.

Sie rannte die Treppe hinunter, zog sich einen schweren Mantel über und verschwand durch die Tür. Der weite Weg zum Doktor würde sie wertvolle Zeit kosten. Warum konnten sie nicht näher an der Stadt wohnen?

Snipe fiel der Zustand der Zitzen von WEISS-047 sofort auf. Die Haut war zwar nicht brüchig und die Höfe noch nicht verschorft, aber sie waren deutlich zu geschwollen ―selbst dafür, dass sie erst vor wenigen Minuten gemolken worden war ―, um gesund zu sein. Wenn er jetzt nichts dagegen unternähme, war es so gut wie sicher, dass sie eine Infektion bekam.

Snipe schenkte bestimmten Kühen seiner Herde mehr Aufmerksamkeit als anderen, aber ihm war nie wirklich klargeworden, warum das so war. Um diejenigen, welchen er mehr Beachtung schenkte, kümmerte er sich auch mehr. WEISS-047 war eine dieser Kühe, und als er jetzt nach ihr sah, versuchte er ― wie so häufig ―, herauszufinden, woran es lag, dass manche Kühe eher ins Auge sprangen als andere.

Sie hatte die gleichen Fingerstümpfe wie alle anderen. Ihre großen Zehen fehlten wie beim Rest auch. Sie gab die gleichen Seufzer und Zischlaute von sich. Sie lahmte aufgrund ihrer Fersenmarkierung, aber das taten alle Tiere der Herde. Sie war zahnlos, haarlos und hatte die gleiche gekrümmte, niedergedrückte Haltung, die sämtliche Auserwählten an den Tag legten. Sie hatte breite Hüften ― nicht alle waren so gebaut, doch die meisten waren es ―, aber irgendetwas unterschied ihre Schultern von den anderen. Sie waren irgendwie zierlicher. Nicht die grobknochigen Schultern, die bei Milchkühen üblich waren. Normalerweise wurden schwächlich wirkende Tiere, um möglichst kräftigen Nachwuchs zu garantieren, aus den Herden entfernt. Dass WEISS-047 oben herum ziemlich schlank war, hätte auffallen und entsprechende Konsequenzen nach sich ziehen müssen. Möglicherweise waren es ihre Augen, die sie vor einem allzu frühen Besuch im Schlachthaus gerettet hatten. Ihre Augen waren willensstark, und im Gegensatz zu so ziemlich
jeder anderen Kuh in der Herde, wagte sie es hin und wieder, Blickkontakt aufzunehmen. Das muss die Aufmerksamkeit der anderen Treiber von ihren feingliedrigen Schultern abgelenkt haben. Sie hatte Glück. Zumindest bis jetzt.

Snipe näherte sich ihrer Box, aber sie versuchte nicht, ihm auszuweichen. Stattdessen blickte sie ihn für einen Sekundenbruchteil an, bevor sie den Kopf wegdrehte. Wie viele aus der Herde hatte sie angefangen, ihm zu vertrauen. Sie versuchte, mit einem ihrer Füße aufzustampfen, stattdessen aber schepperte sie bloß mit ihren Ketten.

»Ganz ruhig«, sagte er. »Mr. Snipe wird dir nicht wehtun.«

Er trat so langsam und vorsichtig wie nur möglich zu ihr in die Box. Kühe waren launisch und neigten dazu, sich selbst zu verletzen, wenn sie sich bedroht fühlten. Und eine verletzte Milchkuh konnte er auf seiner Schicht nicht gebrauchen.

»Langsam, Mädchen. Schön langsam«, wisperte er.

Jetzt war er direkt neben ihr. Selbst nach dem Melken waren ihre Euter noch rund und prall. Sie war jünger als die meisten anderen. Noch so etwas, was seine Aufmerksamkeit erregte: die mit den volleren Eutern. Sein Puls schlug bis hoch in seinen Hals und ein Hitzeschub erfasste seine Schläfen. Er griff mit zitternden Fingern nach dem »Schönheitsbalsam« in der Tasche seines Melkerkittels.

 

Die Bevölkerung war hungrig. Aber das entschuldigte überhaupt nichts.

Und für diejenigen, die Hunger litten ― jene, welche das Protein möglicherweise wirklich brauchten, um zu überleben ―, fiel nur allzu selten etwas ab. Fleisch gab es für die, die es sich leisten konnten.
Leben
gab es für die, die es sich leisten konnten, und so war es schon immer gewesen.

Richard Shanti hatte Blut an seinen Händen. Im Gegensatz zu seinen Kollegen versuchte er nicht, es zu leugnen. Er tat nicht so, als wäre das in Ordnung. Während sie sich mittels scheinheiliger Studien des Buches des Gebens und des Abdominalpsalters um Absolution bemühten, trug er die Last seiner Schuld in vollem Umfang und focht seinen inneren Kampf ganz alleine mit sich selbst aus. Niemals sprach er mit jemandem über seinen Frevel. Er teilte seinen Horror vor dem, an dem er tagtäglich teilhatte, mit niemandem. Stattdessen steigerte er sein Leiden auf jede denkbare Weise. Er wollte sich zeit seines Lebens für seine Verfehlungen strafen. Vielleicht würde sein nächstes Leben ihn ja nicht in eine solche Hölle schicken wie dieser, in der er tagein, tagaus, neues grausames Leid erschuf. Und wenn es kein nächstes Leben gab, würde ihm zumindest immer noch irgendeine geringfügigere Art der Gerechtigkeit zuteilwerden.

Mittag und andere Pausen waren keine gute Zeiten für Shanti. Während die Treiber rauchten, scherzten und die Füße hochlegten, saß er alleine abseits und trank dünnen Kräutertee. Sie aßen Fleischpasteten und Steak-Sandwiches. Er knabberte an Streifen gekochten oder rohen Gemüses, gelegentlich ein paar Beeren oder einem Stück Obst. Anfangs machten sie sich darüber lustig, versuchten ihn zu verspotten und zu hänseln. Doch Shanti reagierte so gelassen und gutmütig darauf, dass sie es bereits nach wenigen Wochen aufgaben.

Sein Einfühlungsvermögen im Umgang mit Tieren war von Anfang an offensichtlich. Er hatte seine Karriere als ungelernter Hilfsarbeiter begonnen und musste Blut und Gewebereste beseitigen. Schon damals hatte es ihn zu den unruhigeren unter den Auserwählten hingezogen, denen, die sich wehrten oder Widerstand leisteten. Er war zwar nicht befugt, sich in der Nähe der Schlachtstraße aufzu
halten, aber in seiner ersten Woche war ein junger Stier in den Pferchen in Panik geraten und hatte die Schlachtstraße blockiert. Shanti war auf das durchdrehende Tier zugegangen und hatte es von einem Augenblick auf den nächsten beruhigt. Worüber sich der diensthabende Schlächter hocherfreut zeigte, dem es aufgrund von Shantis raschem und beherztem Eingreifen gelang, die Produktionsrate hoch zu halten. Vergleichbare Zwischenfälle ereigneten sich damals häufig. Schon bald gab ihm die MFP eine Festanstellung: »Shanti, der Friedensstifter«, »Shanti, der Viehflüsterer«, so nannte man ihn damals.

 

»Hey! Was zur Hölle glaubt ihr da zu tun?«

Greville Snipes Gebrüll hallte durch den Melkstand. Roach und Parfitt stauchte der Schreck in ihre Melkerkittel. Sie drehten die Hochdruckschläuche ab und wendeten sich ihrem Boss zu. In der Ecke, gegen die weiß gekachelte Wand gepresst, kauerte zitternd WEISS-047. Wasser lief ihre gerötete Haut herab. Keiner der Kerle wagte es, ihm ins Gesicht zu sehen.

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