Authors: Allan Guthrie
Pearce machte in dieser Nacht kein Auge zu. Stellte sich immer wieder vor, Hilda säße schwanzwedelnd und tropfnass vor der Tür.
Zweimal stand Pearce auf, um nachzusehen, ob er zwischenzeitlich aufgetaucht war.
War er natürlich nicht.
Gleich bei Tagesanbruch ging Pearce wieder raus. Er war auf das Schlimmste gefasst. Hildas zermatschte Überreste am Straßenrand zu finden. Oder seinen aufgedunsenen, verfilzten Körper am Strand angeschwemmt.
Nicht einmal eine tote Katze lag am Straßenrand, auch wenn ein halbes Dutzend Vögel am Strand angeschwemmt worden waren (der fette kleine Pinguin war nicht darunter - Pearce mochte gerne glauben, dass er überlebt hatte).
Von Hilda leider keine Spur.
Durchs Wohnzimmerfenster bei Dad schaute Flash May zu, die im Garten mit dem Hund spielte. Er war beeindruckt, wie die kleine Töle rennen konnte - eigentlich sogar ziemlich schnell, wenn man seine körperliche Behinderung berücksichtigte.
Er hatte nicht bedacht, wie May auf Pearces Hund reagieren würde, nachdem sie Louis verloren hatte, wie sie sich freuen würde, einen neuen Köter im Haus zu haben. Es war toll, zu sehen, wie glücklich sie wieder war.
Als er am Abend zuvor bei Dad eingetroffen war, hatte May »Ooh!« und »Aah!« gemacht, als er den Hund aus der Tasche geholt hatte, und als sie erst einmal das fehlende Bein entdeckt hatte, hatte Flash Blicke mit Dad und Norrie gewechselt, und sie hatten alle gewusst, dass sie Mühe haben würden, ihr den Hund wieder zu entreißen, wenn er zurückgegeben werden musste.
»Wo hast du ihn her?«, fragte sie.
»Gefunden«, sagte er. »Ausgesetzt.«
»Och, was für ein Süüüüßer.«
Flash vermutete mal, dass sie nicht ihn damit meinte, und der Hund wusste ganz sicher, wen sie meinte, denn er fing an, auf seinen drei Beinen zu tanzen, mit dem Schwanz zu wedeln wie aufgezogen und ihr die Hände abzulecken, als wären sie mit Eiskrem überzogen.
Und seitdem war er ihr nicht mehr von der Seite gewichen.
Flash wandte den Blick vom Fenster ab und wählte die Nummer von Pearce.
»Hier ist Flash Baxter«, sagte Flash, als Pearce abnahm. »Hab heute Morgen ‘ne Nachricht von Wallace gekriegt. Er wollte wissen, wie’s deinem Hund geht.«
Pearces spontane Reaktion war Erleichterung. Alle Gedanken, Hilda könnte tot sein, waren nichts als wilde Spekulation.
Der kleine Scheißer war in Sicherheit. Wallace hatte ihn sich geklemmt.
Aber Pearce kannte Wallace nicht. Und Wallace kannte ihn nicht. »Was will Wallace denn mit Hilda?«, fragte er Flash.
»Jemand muss gesehen haben, wie du mit uns geredet hast«, sagte Flash. »Wallace wollte dir ‘nen Denkzettel verpassen.«
Viel wahrscheinlicher war, dass einer der Baxters Wallace gesagt hatte, Pearce würde ihnen helfen, in dem Glauben, das würde ihm Angst einjagen. Blöde Wichser!
Und dann schlugen Pearces Gedanken eine andere Richtung ein, als er sich an den kurzen Anblick von Baxters Hund erinnerte. Im Kofferraum, die Kehle von einer Seite bis zur anderen aufgeschlitzt. »Was hat der Wichser mit Hilda gemacht?«, fragte er Flash.
»Ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll«, sagte Flash.
Pearce schwieg.
Nach einer Weile sagte Flash: »Er hat gesagt, der Hund sei gesunken wie ein Stein, als er ins Wasser fiel. Wahrscheinlich wegen dem Felsbrocken, den er mit in die Tasche gepackt hat.«
TRUE ROMANCE
Szene eins. Dafür entschied sich Norrie heute. Augen schließen. Oh ja. Und weit, weit öffnen, jawoll. Da war sie. So real wie nur irgend möglich.
Das Japsen vom Rücksitz her verriet Norrie, dass sein alter Freund seinen Spaß hatte. Gut so. Sein einziger Wunsch war, dass Jacob glücklich war. Genau, nur darum ging es. Um nichts anderes. Nee, auf keinen Fall. Das war alles. Das war es wert, dass Norrie sich freigenommen hatte. Wenn Jacob glücklich war, war Norrie auch glücklich. Das Leben war so einfach. Na ja, sollte es ja auch sein, Komplikationen mussten nicht sein, hm?
Norrie war zwei Jahre jünger als Jacob. Jüngere Männer sollten ja eigentlich im Vorteil sein, aber wenn man sich den schlappen Zustand von Norries Eumelchen anschaute, wäre man nie auf den Gedanken gekommen.
Norrie dachte zu viel. Sexkram und Denken passten nicht zusammen. Er würde es garantiert nicht genießen können, nach allem, was er in letzter Zeit durchgemacht hatte. Das hier war für Jacob, nicht für ihn selber. Ihm schwirrte der Kopf-
brmml
-, er wusste nicht, wovon, aber es wollte nicht runterkommen. Das war so, seit… ach Mann. Wenn er auch seinen Spaß haben wollte wie Jacob, musste er sich konzentrieren. Mitmachen.
Hier sein
in seinem warmen Auto, nicht an irgendeinem kalten, düsteren Ort in seinem Kopf. Das Leben war noch nie so schwer gewesen. Auf jeden Fall hatte er noch nie eine so schwere Entscheidung zu treffen gehabt. Und er fragte sich immer noch, ob er sich richtig entschieden hatte.
Ja, jawoll, jippieh! Da gab’s nichts zu rütteln. Es musste die richtige Entscheidung gewesen sein. Andalusien war eine tolle Idee gewesen, aber Norrie konnte Jacob nicht gehen lassen. Nichts zu machen, Boss. Wallace loswerden und in Edinburgh bleiben war eine viel bessere Idee. Oder? Auch wenn …
Na schön, diese Augenblicke von Selbst… Selbstzweifel waren nur natürlich. Na klar. Man konnte nicht das wissen, was er jetzt wusste, und einfach so weitermachen, auch wenn es so aussah. Auf keinen Fall. Es war erledigt. Vorbei. Abgeschlossen. Be.. .endet. Hatte keinen Sinn, sich deswegen Vorwürfe zu machen. Da war jetzt nichts mehr zu machen. Man konnte die Geschichte nicht umschreiben, oder? So hieß es doch, und er hatte nicht vor, sich da rumzustreiten. Die Zukunft, die konnte man allerdings schreiben, und darauf wollte er sich jetzt konzentrieren. Auf die Gegenwart auch, wenn er konnte - scheiß auf die Vergangenheit. Hoppla. Das hätte Jacob nicht gemocht. Fluchen war böse, schrecklich, abscheulich. Wieder Kohle für die Böse-Worte-Kasse. Okay, Boss.
Der Plan von Flash hatte überall Löcher, viel zu riskant. Wenn Pearce rausfand, wer den Hund wirklich geklaut hatte, dann hatten sie echt Probleme. Manchmal fragte Norrie sich, ob er nicht einfach nur ein alter Spinner war. Überbesorgt. Vielleicht, möglicherweise, konnte sein. Aber jetzt hatte er angefangen, und da musste er’s auch durchziehen. Jacob musste beschützt werden. May natürlich auch, aber Jacob ging vor. Und das hieß, dass Norrie Wallace aus dem Weg haben wollte, um jeden Preis.
Dieser Drecksack - hoppla! -, dieser böse Mensch hatte Jacob schon viel zu lange das Leben schwer gemacht. Und das würde so weitergehen, bis jemand dem ein Ende setzte. Jeder Tag, an dem Wallace nichts unternahm, war ein weiterer Tag, an dem Jacob leiden musste. Dagegen gab’s nur eins: tun, was getan werden musste. Und jetzt, wo Flash sich an die Umsetzung des nächsten Teils des Plans gemacht hatte, wusste Norrie, dass Jacob anfing, sich wieder total zu verkrampfen, sich über alles zu sorgen.
Mann, er spürte schon, wie er selber zitterte, und das lag nicht an dem, was die Kleine grade mit seinem Eumelchen machte. Nein, das war jetzt eher langweilig als lustvoll, auch wenn er inzwischen so steif war wie eine versteinerte Hundewurst.
Umschalten auf Szene zwei. Hmmm? Ach nee, die hier war die beste, wenn er sich bloß länger konzentrieren könnte.
Manchmal konnte Norrie kaum glauben, was er gesehen hatte.
Manchmal war das, was passiert war, in seinem Gedächtnis viel zu verrückt, um glaubhaft zu sein, und er warf sich vor, sich Sachen einzubilden. Aber dann traf es ihn mit voller Wucht, glas…klar wie ein Albtraum. Er wünschte, es könnte vage und wattig bleiben. Traumartig. Weiterhin irreal irgendwie. Das wäre was gewesen. Etwas, woran er sich festhalten konnte; er war gar nicht da; es musste jemand anders gewesen sein. Jau, jippieh, klar, Boss! Jemand anders. Nicht ich.
Danach hatte Norrie sich hingesetzt und stundenlang geflennt, und er gehörte nicht zur Sorte Heulsusen. Diese Nacht war die schlimmste Nacht seines erbärmlichen alten Lebens gewesen, schlimmer als der Unfall, und im Augenblick fühlte er sich wirklich alt, obwohl er ja diese vollen zwei Jahre jünger war als Jacob und eigentlich keine Mühe haben sollte, seinen Specht hochzukriegen.
Die Dinge hatten anders werden müssen. Bei dem ursprünglichen Plan würde Pearce nicht mitspielen. Pearce war schuld. Okay, nicht an dem Hund, aber der Hund hatte ja Pearce ins Spiel bringen sollen. Ihn bewegen sollen, ihnen zu helfen. Drecksack. Hoppla! Hatte seine zweite Chance schon bekommen. Fünfzig Pence in die Böse-Worte-Kasse, Jacob. Und die ganze Zeit über stand Jacob unter dem übelsten Druck.
Schau mal, Norrie wusste, was Jacob seinen Kindern verschwiegen hatte. Jacob hatte ein schwaches Herz. Diesen Schlamassel konnte er nun wirklich nicht gebrauchen.
Wie dem auch sei, das, was mit Rog passiert war, bot Jacob einen Ausweg. Die Möglichkeit, May und das Baby zu schützen, ohne das Land verlassen zu müssen. Das war wenigstens die Idee dahinter. Norrie hatte gedacht, es sei offensichtlich für die Polizei, dass Wallace der Täter war. Und wenn Wallace ordentlich ein paar Jahre lang hinter Gittern saß, konnte May nichts passieren. Und wer weiß, vielleicht hätte er sich ja beruhigt, bis er wieder rauskam. Aber das war ja Nebensache. Bis dahin hätte alles passieren können. Beschissene, blöde Bullenschweine. Noch ‘n Fünfziger. Nein, zwei Fünfziger. Hatten ums Verrecken nicht sehen wollen, was doch klar wie Kloßbrühe war. Kein Beweis, dass Wallace es war, hatten sie gesagt. Da war es nur gut, dass Flash auf die Option Lebensversicherung gesetzt hatte. Und damit kam Pearce ins Spiel. Wenn alles glattlief, würde Pearce Wallace ein für alle Mal ausschalten. Und wenn nicht, wenn Wallace Pearce kaltmachte, dann würde er eine ganze Weile sitzen, und darauf hatte Norrie es ja eigentlich von Anfang an abgesehen. Auf diese Weise war May in Sicherheit, und ihr Kleines würde in Sicherheit geboren werden, und, was am wichtigsten war, am total allerwichtigsten von allem, Jacob war dann in Sicherheit. Und mit ein bisschen Glück würde das Gericht Wallace auch für die Schüsse auf Rog verurteilen. Schiefgehen konnte es nur, wenn die beiden beschlossen, sich nicht gegenseitig umzubringen. Aber angesichts ihres gewalttätigen Charakters war dieser Aus…gang extrem unwahrscheinlich. Fein, es war also ein guter Plan.
Oh Junge, das war hart gewesen, Rog daliegen zu sehen, mit Blei vollgepumpt. Hart, wahnsinnig hart, echt. Aber Norrie hatte es weggesteckt. Grade so. Trotzdem machte ihm das Gerangel hier jetzt kein bisschen Spaß. Doch er musste weitermachen, so gut es ging. Wollte nicht, dass Jacob etwas ahnte. Musste weitermachen wie gewöhnlich. Machen, was sie jeden Freitag machten. So tun, als wäre alles in Butter.
Norrie kümmerte sich um Jacob. So funktionierte nun mal ihr Verhältnis. Zuerst war Jacob nicht sehr begeistert gewesen. Fand, das hier sei nicht recht. Nach Annies Tod war Jacob nicht danach gewesen, andere Frauen kennenzulernen, aber von Zeit zu Zeit hatte er eben Druck, wie er Norrie gestanden hatte.
Norrie sagte ihm, was er selbst gegen den Druck unternahm, und schlug Jacob vor, es genauso zu machen. Aber Jacob machte gar nichts. Eines Tages hatte Norrie ihm eine hübsche Kleine zugeschanzt, die diesen Druck hatte ablassen können. Und Jacob war vor ihm zusammengebrochen. Hatte ihm erzählt, er hätte nie gedacht, es im Leben noch mal zu machen, hätte nicht mal gewusst, dass er seinen Eumel überhaupt noch hochkriegt. Na, daran gab es jedenfalls keinen Zweifel, wie Norrie im Rückspiegel sehen konnte. Okay, das war Szene zwei. Ehrlich gesagt gerieten die verschiedenen Szenen ein bisschen durcheinander.
Heute Morgen waren sie beide im Krankenhaus gewesen (wirklich). Norrie dachte, es könnte schwierig werden, mit Rog im gleichen Raum zu sein. Schuldgefühle, Schuldgefühle, Schuldgefühle. Schuldgefühle konnten schwer auf den Schultern lasten, wenn er es zuließ. Konnten Schweißausbrüche und Atemnot bewirken. Aber es ging ihm gut. Hatte ihn nur daran erinnert, wie es gewesen war.
Es war alles so schnell passiert.
Wamml,
ins Gesicht mit dem Nudelholz, dann
peng, pengl,
und die Knie waren futsch.
Und er war draußen, ehe jemand in die Küche kam.
Kein Problem, an die Kanone zu kommen. Er wusste schließlich, wo er hingehen musste, nicht? Der Irokesentyp hatte wieder versucht, ihm das Museumsstück anzudrehen, bis ihm einfiel, dass er es ja schon mal versucht hatte.
»Autsch!« Norrie öffnete die Faust. Die Stelle, wo er sich mit dem Autoschlüssel ein Loch in die Handfläche gebohrt hatte, klebte vor Blut.
»Entschuldige.«
»Nicht du.« Mit der unverletzten Hand strich er über die Haare des Mädchens. Sie fühlten sich rau an, nicht weich und glatt, wie man es sich vorstellte. Sie war natürlich ein Junkie. Auf der Straße, seit sie aus der Schule war. Vor drei Jahren, hatte sie gesagt. Hatte nicht viel Gelegenheit gehabt, sich zu verwöhnen. Wahrscheinlich besser so. Sie war massig, trotz ihrer angeknacksten Gesundheit und der schlechten Ernährung. Sollte man gar nicht denken, ein fetter Junkie. Aber Norrie hatte auch schon ein paar fette Vegetarier gesehen, also war alles möglich. Egal, über ihrem grindigen Knie sah er sahneweiß und dick ihren Oberschenkel. Wäre sie auf der Schule geblieben, Sekretärin geworden, wäre sie ‘ne fette Sekretärin geworden. »Du machst das echt gut.« Er zupfte zärtlich an ihrem Ohrläppchen, während ihre Lippen an seinem Schaft auf und ab glitten.
Auf dem Rücksitz stöhnte Jacob inzwischen lauter. Das Problem bei Autos war: Wenn man die Sitze nicht umklappen konnte, war für nichts anderes Platz als für eine gute alte Blasnummer. Aber ein so gewichtiges Problem war das eigentlich auch nicht, wenn man drüber nachdachte. In ihrem Alter war so eine Blasnummer die einzige Art von Sex, die überhaupt noch funktionierte, und da brauchte man die Sitze auch nicht umzuklappen.
Norrie würde kein schlechtes Gewissen bekommen. Nein, von wegen. Er hatte mit dem, was er getan hatte, nur der Familie gezeigt - und auch Pearce gezeigt -, dass Wallace zweifellos ein Mann war, der zu allem fähig war. Das war ganz und gar nicht nur so eine lächerliche Schnaps… idee von Jacob. Oder schlimmer noch, Paranoia.
Denn genau das war es gewesen, bis Norrie dem Hund die Kehle durchgeschnitten hatte.
»Oh, Norrie«, hörte Norrie vom Rücksitz. »Gleich bin ich …«
»Boss.«
Jacobs Hand schoss nach vorne, und Norrie packte sie.